Ist Beschneidung sittenwidrig?

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    • Ist Beschneidung sittenwidrig?

      Ich würde gern ein Zitat aus der Tonio-Walter-Thread aufgreifen, bevor es dort in anderen Aspekten untergeht.

      Hickhack schrieb:

      "Die Juristen, die ich sonst dazu gelesen habe, haben in den Raum geworfen, daß die Einwilligungserklärung der Eltern wohl am ehesten mit der Sittenwidrigkeit ausgehebelt werden könnte - weshalb 226a kaum Probleme bereiten würde, aber 1631d in voller Härte unantastbar wäre...

      Dazu schreibt Brian Valerius ( mittlerweile ordentlicher Professor in Bayreuth).

      "Auch jenseits aktueller Diskussionsthemen wie der Beschneidung sind kulturelle Wertvorstellungen bei der Einwilligung in Körperverletzungen mitunter von Bedeutung, u.a. für die Interpretation der Sittenwidrigkeit der Tat, die gemäß § 228 StGB die Wirksamkeit einer erteilten Einwilligung ausschließt. Hier bestimmt sich die Konkretisierung des Merkmals wiederum nach einem einheitlichen Bewertungsmaßstab, der üblicherweise als das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden definiert wird. Ebenso wenig wie die Wertvorstellungen einzelner gesellschaftlicher Gruppen oder sogar allein des erkennenden Richters der Rechtfertigung der Körperverletzung entgegenstehen, schließen die abweichenden kulturellen Anschauungen des Einwilligenden oder einzelner kultureller Gruppierungen die Anwendbarkeit des allgemeingültigen Maßstabs aus.Die kulturellen Umstände der Tat vermögen also wiederum nur als Bewertungsfaktoren zu berücksichtigen sein, vor allem wenn sie die mit der Tat verfolgten Ziele und Beweggründe bestimmen. Allerdings geben für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit einer Körperverletzung vornehmlich deren Schwere und die hervorgerufene Leibes- und Lebensgefahr den Ausschlag."
      (Hervorhebungen von mir)

      ja-aktuell.de/cms/website.php?…ufs/wertvorstellungen.htm

      Das heisst doch nichts anderes als, dass bei Körperverletzungen kulturelle Umstände bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit gar nicht greifen, sondern allein die Schwere des Eingriffs. Oder anders ausgedrückt: in eine schwere Körperverletzung KÖNNEN Eltern gar nicht wirksam einwilligen. Valerius scheint mir da in der Nähe von Putzke zu sein, wird aber z.B. von Schramm als Kronzeuge für die Legalität der Beschneidung angeführt.
      "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" K.M.
    • Die Frage wie schwerwiegend die VA ist, ist bis heute nicht geklärt.

      Aus dem Bauch heraus würde ich vermuten, daß das "allgemeine Empfinden" tatsächlich davon ausgeht, daß die VA "nicht so tragisch ist" - was zum einen mit der Tabuisierung zu tun haben könnte und auf der anderen Seite mit einem archaischen Männerbild.

      Wirklich belastbare Studien, die alle möglichen Aspekte analysiert haben, gibt es einfach (noch) nicht.

      Ich würde mich jedenfalls auf kein Gericht - nicht mal auf's BVerfG - verlassen...


      Edit: Valerius scheint mir 1631d überhaupt erst den Weg bereitet zu haben. Er unterscheidet weder nach FGM Typ I bis VI noch stellt die VA für ihn einen "schwerwiegenden Eingriff" dar. Interessant wäre, ob er mit der totalen Freigabe wie sie jetzt in 1631d festgeschrieben wurde, auch noch einverstanden ist.
      Gruß
      Hickhack
    • Von wirklich belastbaren Studien, dass das Abschneiden der Klitorisvorhaut immer Traumata auslöst und schwere lebenslange Folgen hat, hab ich auch noch nie etwas gehört.
      Hier entscheidet einfach der gesunde Menschenverstand und unsere kulturhistorische Brille - durch die zu viele eben noch immer VAs als etwas hingegen Harmloses darstellen. DA verlangt man dann auf einmal Studien, anstatt auch bei VAs einfach den gesunden Menschenverstand einzuschalten...
    • MIR ist das klar. DIR auch und etlichen anderen hier ebenso.

      Aber um einem Richter etwas an die Hand zu geben, dessen inneres Gefühl ihm sagt, daß das "allgemeine Empfinden" (und da reicht die Umfrage mit den 70% gegen 1631d meiner Vermutung nach nicht aus) der Bevölkerung keine "Sittenwidrigkeit" erkennt, muss wohl schon etwas "hartes Faktisches" her.
      Gruß
      Hickhack
    • Dummdideldei, Sittenpolizei!

      Dummdideldeck - ist schon wieder weg! ^^

      Der Begriff "gute Sitten" ist ja schon ein Anachronismus. Heute, in unserer Multikulti-Allesversteher-Zeit gilt: OK ist, was gefällt, und was nicht explizit verboten ist (bzw. auch alles, wo man nicht erwischt werden kann) "Anstandsgefühl"? LOL, was ist das denn für ein alter Scheiß, da kann man sich nichts für kaufen! Hat doch eh jeder nach kulturellem Hintergrund andere Vorstellungen. Für Muslime ist es halt hochanständig, ihre Söhne anständig zu verstümmeln.
      Das ist doch alles Kautschuk. Eine Sackgasse.

      Die Frage ist doch viel mehr, unter welchen Bedingungen kann legal eine Amputation bei einem Kind stattfinden?
      Bei Vorliegen einer akuten medizinischen Notwendigkeit und Einwilligung der Eltern (oder des Familiengerichtes) - ohne Zweifel.
      Aber eine Amputation bei einem kerngesunden, normal entwickelten Kind "auf Elternwunsch" (das mit der "Einwilligung" ist ja der verlogenste Mist aller Zeiten)? Dafür gab es vor dem §1631d kein einziges legales Beispiel. Wenn man aber eine Ausnahme zulässt, ein bestimmtes Körperteil, bei einem der beiden Geschlechter - dann hat man viele Regeln durchbrochen. Dann ist das ganze System im Eimer. Weil an der männlichen Vorhaut ist nichts, was sie gegenüber anderen Körperteilen oder auch der weiblichen Vorhaut "minderwertig" oder gar "wertlos" machen würde.
      Es handelt sich also schlicht um Raub. Raub eines Körperteils. Das dem Kind gehört, und sonst niemandem.
      Alle Teile des kindlichen Körpers sind Eigentum allein des Kindes. Das Grundrecht auf Eigentum beinhaltet auch das Recht auf Vorhaut.
    • Hickhack schrieb:

      Die Frage wie schwerwiegend die VA ist, ist bis heute nicht geklärt.




      Ja, leider. Indes, am Schweregrad zweifeln kann man wohl nur als verblendeter. Ganz objektiv betrachtet:

      1. Es entstehen erhebliche Schmerzen, die ohne Betäubung oder sogar Narkose kaum auszuhalten sind.

      2. Es fliesst Blut.

      3. Es wird ein Teil des Körpers dauerhaft entfernt.

      Sicher ist das Fehlen der Vorhaut nicht mir dem Fehlen des Augenlichts oder des Hörvermögens zu vergleichen, aber ganz offensichtlich auch nicht mit Haarschneiden oder Ohrstechen. Alleine das Ausmass der Schmerzen deutet mMn bereits die Erheblichkeit an.

      Wie Valerius als "billig und gerecht Denkender" hier keinen erheblichen Schweregrad feststellen will, ist für mich nicht nachvollziehbar. Oder läßt sich Valerius inzwischen anders einordnen?
      Art. 2 GG:
      (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Geschuldet der deutschen Vergangenheitsbewältigung gilt dieses Grundrecht ausdrücklich nicht, wenn die Person a) ein Kind und b) männlich ist, c) die Eltern entweder jüdischen oder muslimischen Glaubens sind und d) das kindliche Genital das Ziel der Versehrtheit ist.
    • Ich lese den Valerius ein bisschen anders.

      Er diskutiert zwar die Bedeutung kultureller Wertigkeiten für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit, die im "Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" besteht, kommt aber letztlich zu dem Ergebnis, dass bei einer (tatbestandlichen) Körperverletzung nicht diese Wertigkeiten, sondern vornehmlich deren Schwere die Sittenwidrigkeit begründet. Dass diese Schwere seiner Ansicht nach nicht vorliegt, hat er bereits vorher "festgestellt", und zwar unter Hinweis auf folgende Fussnote:

      "46 Das medizinische Schrifttum geht von einer Komplikationsrate von 0,2 bis ca. 6 % aus,Riccabona in: Komplikationen in der Urologie 2, S. 318 (318); Stehr/Schuster/Dietz/JoppichKlinPädiatr 2001, 50 (53). S. aber die Bedenken von Jerouschek NStZ 2008, 313 (316); PutzkeMedR 2008, 268 (269); Stehr/Schuster/Dietz/Joppich KlinPädiatr 2001, 50 (54) wegen möglicher psychischer Auswirkungen der Zirkumzision."

      An dem Artikel von Valerius ist interessant, dass er (wie einige andere auch) vor dem Kölner Urteil verfasst wurde, und die aufgeheizte Diskussion noch nicht stattgefunden hat.
      "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" K.M.
    • Für solche Fälle hat der gute Jurist den Fischer-Kommentar im Schrank. Wenn auch bloß die 57. Auflage von 2010, weil hier normalerweise keine Strafrechtsfälle verarztet werden. § 228 StGB Randnummer 8:
      Eine Rechtfertigung der Körperverletzung ist nach § 228 auch bei Vorliegen einer Einwilligung ausgeschlossen, wenn die Tat (also nicht die Einwilligung, vgl. BGH 4, 88, 91; 49, 166, 170; 53, 55 [für Fahrlässigkeitstaten]; NStZ 00, 87 f.; BGHR § 228 Einwilligung 1) gegen die guten Sitten verstößt; § 228 beschreibt insoweit eine generalpräventiv begründete Grenze individueller Autonomie.

      Die Einwilligung muss wirksam erteilt worden sein, also in Kenntnis von Grund, Art, Umfang sowie beabsichtigten und möglichen Folgen des Eingriffs. Sonst liegt sie schon gleich gar nicht vor und die Körperverletzung bleibt strafbar. Es folgen 7 Randziffern an Absätzen über die Erteilung einer wirksamen Einwilligung. Darunter Fragen der teilweise schwierigen Einschätzung der Selbstbestimmungsfähigkeit Minderjähriger, wenn diese sich auffällige Tätowierungen stechen oder kosmetischen Operationen unterziehen wollen.

      Dann kommt die Kausuistik, also Fallbeispiele aus der Praxis. Sterilisation von Minderjährigen und geistig Behinderten (sittenwidrige Einwilligung; im ersten Fall der Erziehungsberechtigten). Fremddoping, wenn hierbei schwerwiegende Gesundheitschäden verursacht werden.
      (...) für Knochenmarkspende von Minderjährigen § 8 a TPG.
      Transplantationsgesesetz. Klingt interessant... Einwilligung in Organspenden zu kommenrziellen Zwecken sind allerdings wohl eh nicht sittenwidrig.

      Sehr viel mehr Fälle gibt es gar nicht.
    • Licht in' s Dunkel bringt folgendes BHG-Urteil.

      "Der Staat könne nur dann in die Dispositionsfreiheit des Rechtsgutsinhabers eingreifen, wenn gravierende Verletzungen und schwer wiegende Beeinträchtigungen der Körperverletzung vorliegen – diese seien von der Rechtsordnung nicht mehr hinnehmbar. Entscheidend für das Sittenwidrigkeitsurteil soll deshalb die Art und das besondere Gewicht der Körperverletzung und der Grad der möglichen Körperverletzung sein.
      Soweit sexuell motivierte sadomasochistische Handlungen keine gravierenden Verletzungen zur Folge haben, sind diese nicht sittenwidrig und deshalb gerechtfertigt.
      Auf die Ziele und Beweggründe will diese Ansicht nur ausnahmsweise dann abstellen, wenn mit der Tat ein positiver oder jedenfalls einsehbarer Zweck verfolgt wird. Ist der Zweck ausnahmsweise so gewichtig, dass die einverständliche Realisierung auch zum Preis einer Körperverletzung noch angemessen erscheint, kompensiere der positive Zweck dann die zunächst negative Bewertung der Tat. Diese Kompensation soll dann sogar in Fällen gravierender Verletzungen anerkannt werden.

      Der BGH schließt sich der letztgenannten Auffassung an...
      Der Senat hält deshalb das Ausmaß oder das Gewicht der drohenden Rechtsgutsverletzung für maßgebend, mit der Folge, dass ab einem bestimmten Grad der körperlichen Beeinträchtigung oder einer möglichen Lebensgefahr der Einwilligung alleine grds keine rechtfertigende Wirkung zukommt.
      Ab welcher Verletzungsintensität die Köperverletzung als sittenwidrig zu beurteilen ist, lässt der BGH ebenso offen wie die Beantwortung der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen weitergehende Zwecke bei der Würdigung der Tat zu berücksichtigen sind.


      ja-aktuell.de/root/img/pool/ar…2004_2-2005_petersohn.pdf
      "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" K.M.
    • Ich würde eher so argumentieren:

      • Die Einwilligung der Eltern ist unwirksam, weil Genitalvertümmelung nicht im Kindeswohl liegt. Neben den medizinischen und sexuellen Folgeschäden handelt es sich auch um eine Verletzung der Menschenwürde des Kindes/späteren Mannes gem. Art.1 Abs.1 GG.

      • § 1631 d reicht als Rechtfertigungsgrundlage nicht aus, weil die Vorschrift verfassungswidrig ist.


      Fertig. So einen Fall überhaupt vor Gericht zu bringen, ist schwer. Wenn er aber da ist, kann man eigentlich das gesamte Programm abspulen.
    • Weil die Eltern das Kind rechtlich vertreten, bis es erwachsen ist. Für eine Körperverletzung nach § 223 StGB muss ein Strafantrag des Geschädigten gestellt werden, sonst wird die Tat nicht strafrechtlich verfolgt. Das müsste auch seitens der Sorgeberechtigten in Vertretung des Kindes erfolgen. Ist der Knabe dann endlich soweit, dass er 18 Kerzen auspusten kann, sind die Taten/Ansprüche alle verjährt, außer vielleicht Schadenersatzansprüche für Vorhautwiederherstellungsprodukte. Das zahlen die Ärzte dann lieber gleich, statt ein Urteil zu riskieren.

      Wie man den Kram hintenrum durch irgendwelche krusseligen Fallkonstellationen doch noch vor den Kadi bringen könnte, ist eine ganz schwierige Frage.
    • Maria Werner schrieb:

      Ich würde eher so argumentieren:


      Der Verteidiger könnte dann antworten:

      "Es handelt sich keineswegs um eine gravierende Körperverletzung." (Während er dies sagt, wedelt er mit dem AAP-Papier herum.) "Und ausserdem dient sie einem positiven Zweck, der zwar nicht der Ansicht aller billig Denkenden entspricht, aber doch einsehbar ist." :huh:
      "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" K.M.
    • Maria Werner schrieb:

      Wahrscheinlich lernt Frau Deusel schon fleißig Jura.

      Braucht sie nicht. Es reicht, wenn sie - wie alle anderen Befürworter auch - gebetsmühlenartig wiederholt, dass "keine gravierende Körperverletzung" vorliegt. Was einmal irgendein Richter dazu meint, wissen wir nicht... :whistling:
      "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" K.M.
    • Maria Werner schrieb:

      Wie man den Kram hintenrum durch irgendwelche krusseligen Fallkonstellationen doch noch vor den Kadi bringen könnte, ist eine ganz schwierige Frage.
      Es ging die Idee, daß ein Paar (am besten getrennt lebend mit gemeinsamem Sorgerecht) bei der der eine die Vorhaut des Sohnes entsorgt wissen will und der andere ob dieses Ansinnens das alleinige Sorgerecht beantragt.Aber selbst dann hinge es (soweit die Theorie) noch daran, ob der angerufene Richter den Fall ans BVerfG verweisen würde um die Norm dort prüfen zu lassen...

      Eine der einfachsten Methoden wäre jemand wie ich mit Sohn und Tochter und dann über 226a - allerdings wollte ich die Namen meiner Kinder in diesem Zusammenhang beim besten Willen nicht in der Presse lesen (zumal mir kein Mensch abnähme, daß ich meine Tochter ernsthaft ans Messer liefern wollen würde...)
      Gruß
      Hickhack
    • Mir fällt gerade was anderes ein... der Arzt.... der wissen will, ob er die Beschneidung rechtmäßig durchführen darf oder ob er Probleme bekommt.... der Arzt wäre unmittelbar betroffen von der Regelung des § 1631d BGB.... denn wenn sie unwirksam ist und er die Beschneidung trotzdem durchführt, bekommt er richtig Ärger.... so ein Verfahren ist echt eklig für Leute, die nicht von Haus aus kriminell sind, auch dann, wenn er wegen Verbotsirrtums am Ende freigesprochen wird... ich kenne Leute, die haben Gerichtsangst wie andere vor'm Zahnarzt (bei ganz normalen Vertragsstreitigkeiten), aber auch ohne das ist das wahnsinnig belastend, richtig hart... er will das also schon vorher wissen.... jetzt schweige ich erst mal, bis ich weiter darüber nachgedacht habe. Oder klügere Leute als ich darüber nachgedacht haben.