Familie.de Falschinformationen zur Phimose und überholte Altersangaben

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    • Familie.de Falschinformationen zur Phimose und überholte Altersangaben

      Wieder einmal wurde ein fragwürdiger Artikel zum Themenkomplex Beschneidung/Phimose veröffentlicht. Diesmal auf dem Webportal "Familie.de":

      familie.de/kind/beschneidung-g…sfrage-oder-notwendigkeit.



      Der Artikel enthält mehrere fehlerhafte bzw. veraltete Informationen zum Krankheitsbild der Phimose und zur normalen Vorhautentwicklung.


      Der verheerendste Fehler des Artikel ist wohl, dass er bei der Beschreibung der Vorhautentwicklung die mehrfach widerlegten Werte von Douglas Gairdner angibt.

      Familie.de schrieb:

      Zeitpunkt ihrer Geburt ist das sogar bei 96% aller Jungen der Fall, und bei der überwiegenden Mehrheit löst sich die Vorhautverklebung im Alter von drei bis fünf Jahren von selbst. Lediglich ein Prozent der 16- bis 17-Jährigen leidet unter einer Vorhautverengung, die behandelt werden muss.

      Hier sind sie wieder: Die lange überholten und mehrfach widerlegten Werte zur Vorhautentwicklung aus dem 1949 veröffentlichten Artikel "Fate of Foreskin" des britischen Kinderarztes Douglas Gairdner. Es ist davon auszugehen, dass der Autorin der Ursprung dieser Werte gar nicht bewusst ist. Gairdners Werte wurde im Laufe der Jahrzehnte bild und unreflektiert von unzähligen Werken der Fach- und Laienliteratur zitiert und rezitiert. Aber diese Werte sind unzweideutig die Werte aus Gairdners Artikel von 1949.

      Dabei haben 10 nachfolgende Studien über die Entwicklung der Vorhaut-Zurückziehbarkeit eindeutig gezeigt, dass im Alter von drei bis fünf Jahren noch bei der überwiegenden Mehrheit der Jungen die Vorhautverklebung noch nicht gelöst und die Vorhaut noch nicht zurückziehbar ist. (1-10)

      Die AWMF-Leitlinie zur Phimose beschreibt die Vorhautentwicklung wie folgt:

      Leitlinie schrieb:

      Im Alter von sieben Jahren kann etwa die Hälfte der Knaben das Präputium wenigstens weitgehend zurückstreifen. Mit 10 Jahren sind es etwa zwei Drittel. In diesem Alter hat also noch etwa 1/3 entwicklungsbedingt eine mindestens partielle Enge oder Verklebung.


      Ich kann wirklich nicht verstehen, warum diese Werte selbst heute noch im Jahr 2019, fast 70 Jahre nach dem Erscheinen von Gairdners Arbeit und nachdem mindestens 10 Studien weltweit Gairdners Daten gründlich widerlegt haben, weiter verbreitet werden.


      Familie.de schrieb:

      Das sind die Anzeichen für eine Phimose:
      • Der Harnstrahl kann beim Wasserlassen durch die verengte Vorhaut schwächer oder verdreht sein.
      • Die zu enge Vorhaut wölbt sich während des Wasserlassens ballonartig auf.



      Ein weiterer schwerwiegender Fehler ist, dass der Artikel die Ballonierung der Vorhaut als ein Anzeichen für eine (behandlungsfähige) Phimose darstellt. Das ist gleich in zweifacher Hinsicht ein Fehler: Erstens weil die Ballonierung beim Wasserlassen (zumindest innerhalb der letzten 10 Jahre) in der medizinischen Fachliteratur einhellig als harmloses, entwicklungsbedingtes Phänomen beschrieben wird (11-20), sondern weil die Diagnosestellung der Phimose so falsch beschrieben wird.

      Als einziges Diagnosekriterium für eine pathologische (krankhafte) Phimose wird in der aktuellen Fachliteratur die Präsenz eines weißlichen Narbenringes entlang der Vorhautöffnung – etwa infolge einer Lichen sclerosus genannten Hauterkrankung - genannt.(11-20)
      Alle anderen Formen der fehlenden Zurückziehbarkeit werden als physiologische Phimose (entwicklungsbedingte Phimose) bezeichnet.

      Darüber hinaus nennen manche Quellen auch noch– wiederkehrende Balanoposthitiden oder wiederkehrende Harnwegsinfektionen bei Patienten mit bestimmten Harntraktanomalien auch bei physiologischer Phimose als Behandlungsgrund an.

      Entscheidend aber ist: Eine nicht-zurückziehbare Vorhaut an sich - ohne Narbenbildung und ohne begleitende Infektionen – ist keine Krankheit sondern ein normaler Entwicklungszustand.


      Im Artikel wird aber zwischen pathologischer (narbiger) Phimose und physiologischer Phimose gar nicht unterschieden. Zusammen mit der in der Darstellung der Vorhautentwicklung können die Leser den Eindruck bekommen, eine entwicklungsbedingt nicht-zurückziehbare Vorhaut - auch ohne Narbenbildung und ohne Begleitbeschwerden - wäre ab dem 5. Lebensjahr behandlungsbedürftig.


      *** *** ***

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      facebook.com/familie.de



      Einzelnachweise:
      1. Øster J. Further fate of the foreskin: incidence of preputial adhesions, phimosis, and smegma among Danish Schoolboys. Arch Dis Child 1968;43:200-3.
      2. Kayaba H, Tamura H, Kitajima S, et al. Analysis of shape and retractability of the prepuce in 603 Japanese boys. J Urol 1996;156(5):1813-5.
      3. Morales Concepcion JC, Cordies Jackson E, Guerra Rodriguez M, et al. Fimosis: ¿Son necesarias la circuncisión o la dilatación forzada?". Rev Cubana Pediatr 2001;73(4):206-11.
      4. Morales Concepción JC, Cordies Jackson E, Guerra Rodriguez M, et al. ¿Debe realizarse circuncisión en la infancia. Arch Esp Urol 2002;55(7):807-11.
      5. Ishikawa E, Kawakita M. [Preputial development in Japanese boys]. Hinyokika Kiyo 2004;50(5):305-8.
      6. Agawal A, Mohta A, Anand RK. Preputial retraction in children. J Indian Assoc Pediatr Surg 2005;10(2):89-91.[/size]
      7. Hsieh TF, Chang CH, Chang SS. Foreskin development before adolescence in 2149 schoolboys. Int J Urol. 2006 Jul;13(7):968-70.
      8. Ko MC, Lui CK, Lee WK, et al. Age-specific prevalence rates of phimosis and circumcision in Taiwanese boys. J Formos Med Assoc 2007;106(4):302–7.[/size]
      9. Yang C, Liu X, Wei GH. Foreskin development in 10 421 Chinese boys aged 0-18 years. World J Pediatr. 2009 Nov;5(4):312-5.
      10. Yu SH, Yu HS, Kim S. Age-specific foreskin development before adolescence in boys. Curr Pediatr Res 2017;21(1):136-139[/size]
      11. Malone P, Steinbrecher H. Medical aspects ofmale circumcision. BMJ 2007;335(7631):1206–90.
      12. McGregor TB, Pike JG, Leonard MP. Pathologic andphysiologic phimosis. Approach to the phimotic foreskin Can Fam Physician 2007;53:445–448.
      13. Cuckow PM. Foreskin. In: Gearhart JP, Rink RC, Mouriquand P, editors. Pediatricurology. Philadelphia: W.B. Saunders; 2010.
      14. Metcalfe PD, Elyas R. Foreskin management: Survey of Canadian pediatric urologists. Can Fam Physician 2010 Aug;56(8):e290-5.
      15. Shahid SK. Phimosis in children. ISRN Urol 2012:707329.6. DrakeT, Rustom J, Davies M. Phimosis in childhood. BMJ 2013;346:f3678
      16. Keys C,Lam JPH. Foreskin and penile problems in childhood. Surgery 2013;31(3):130-134.
      17. Abbas T, McCarhy L. Foreskin and penile problems in childhood. Surgery2016;34(5):221-22
      18. ChanI H, Wong KK. Commonurological problems in children: prepuce, phimosis, and buried penis. Hong Kong Med J 2016 Jun;22(3):263-9.
      19. Abara EO. Prepuce health andchildhood circumcision: Choices in Canada. Can Urol Assoc J 2016 Jan-Feb;11(1-2Suppl1):S55-S62.
      20. Dave S, Afshar K, Braga LH, Anderson P. Canadian Urological Association guideline on the care of the normal foreskin and neonatalcircumcision in Canadian infants (full version). Can Urol Assoc J 2018 Feb;12(2):E76-E99.

      Dieser Beitrag wurde bereits 2 mal editiert, zuletzt von Sokrates ()

    • Ich habe neulich in einem Gesundheitsforum gelesen (von einer Frau verfasst, sinngemäß): "Hilfe! Mein Sohn ist schon 2 Jahre alt und seine Vorhaut geht noch immer nicht zurückzuziehen! Wo finde ich einen guten Arzt zur Beschneidung?" Zum Glück gab es ein paar Antworten wie "Warten sie noch ab, vielleicht gibt sich das noch" o.ä.Ich frage mich, wie kommen manche Leute da drauf, dass das mit 2 Jahren gehen muss? Das müsste doch eigentlich jeder Arzt wissen, wenn man ihn fragt.
    • Sicher weiß jeder Arzt das. Er weiß aber auch seinen Kontostand und da geht noch etwas.
      Alfred
      Die Menschheit war schon immer bereit, Themen im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Wichtigkeit zu diskutieren. Je mehr eine Frage uns alle berührt, umso mehr gilt daher, dass selbst kluge Menschen behaupten, die Frage existiert überhaupt nicht.--Samuel Butler--
    • Tursiops schrieb:

      Sicher weiß jeder Arzt das. Er weiß aber auch seinen Kontostand und da geht noch etwas.
      Alfred
      Denkt sich doch jeder, dass bei seinem Kontostand noch was geht? ;)

      Aber das Verhalten von Ärzten und insbesondere Urologen nur aufs Geld zurückzuführen...halte ich für falsch...da ist Unwissenheit, Uninformiertheit und die Unfähigkeit und der Unwillen das eigene Wissen und Handeln zu hinterfragen für mich der Hauptgrund...

      "Schon immer beruhten die meisten menschlichen Handlungen auf Angst oder Unwissenheit"
      Albert Einstein
      Menschen wurden erschaffen, um geliebt zu werden. Dinge wurden erschaffen, um benutzt zu werden. Der Grund, warum sich die Welt im Chaos befindet ist, weil Dinge geliebt und Menschen benutzt werden. -Dalai Lama