Die Gefahr, dass solche Stimmen in Zukunft zu Minderheitenvoten reduziert werden, ist groß. Denn die Propagandisten des Selbstermächtigungskonzepts begründen dieses mit dem Argument der absoluten Vernunft. Dass dieses Argument durchaus eine Basis in dieser Gesellschaft besitzt, zeigt u.a. die Debatte über die Beschneidung von muslimischen und jüdischen Knaben vor gut zwei Jahren. Das religiöse Ritual wurde mit Verweis auf wissenschaftliche Erkenntnisse und auf die Vernunft als auszurottendes Merkmal archaischen Denkens eingestuft. Der Schriftsteller Navid Kermani bemerkte dazu damals in der »Süddeutschen Zeitung« zu Recht: »Aufklärung ist nicht nur die Herrschaft der Vernunft, sondern zugleich das Einsehen in deren Begrenztheit.« Die Begründung für ein Beschneidungsverbot, die sich auf »den eigenen, also heutigen Verstand absolut« berufe, bezeichnete Kermani als einen Ausdruck von »Vulgärrationalismus«.

Kermani schrieb auch davon, dass in der öffentlichen Debatte Mut mittlerweile zu einer Kategorie geworden sei, die das Gegenteil von dem meine, was dieser Begriff eigentlich besage. Kurz gesagt, meint Kermani folgendes: Fortwährend werden mit Verweis auf die Rationalität Ressentiments gegen andere ausgesprochen und dies in der Regel sogar noch als Tabubruch verkauft. Der »Vulgärrationalismus« stellt demzufolge nicht nur religiös begründete Wertesysteme in Frage, er ist in letzter Konsequenz inhuman.

Denn genau das ist ja der Vorteil eines jeden Rituals - sei es religiös oder anderweitig weltanschaulich bedingt -, dass es als von jedweder konkreten Begründung befreite Versöhnungsgeste Einheit und Einbindung stiftet.

Sicherlich hat jeder das Recht, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen...