Prof. Matthias Franz: »Was tue ich da meinem Sohn eigentlich an?«

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    • In dem Interview gelingt es Matthias Franz in höchst eindrucksvoller Weise die Drohkulisse, die hinter der Beschneidung steht, darzustellen.
      Franz spricht von dem "männlichen Rollenkäfig, der Jungen und Männern immer noch schweigsame Härte abverlangt", von der "Bedrohung der männlich-sexuellen Identität" und dem "entschieden traumatischen Potenzial", das "unter hohem Gruppendruck" zur "unreflektierbare Weitergabe selbst erlebter Verletzungen an die nächste Generation" führt.
      Diese Drohkulisse hat sich bis in die politische Debatte hinein fortgesetzt und "hat bei vielen Beteiligten fast aller politischen Parteien zu einer deutlich wahrnehmbaren Beeinträchtigung der Faktenwahrnehmung, Argumentationsfähigkeit und Autonomie geführt."
      Damit wurde der Versuch gemacht, das Thema aus der Diskussion zu verbannen, denn: "Ein gesellschaftlicher Dialog kann nur entstehen, wenn die Erlebnisse der Betroffenen Gehör finden."


      Natürlich wird Franz mit dem "Argument" konfrontiert werden, dass er als Psychoanalytiker nur Einzelfälle und "Kranke" zu Gesicht bekomme, und keine evidenzbasierte Statistik vorlege. Dass solche Statistiken ebenso dazu dienen können, Betroffene durch Ausgrenzung unter den Tisch fallen zu lassen, wurde kürzlich vor dem Europarat demonstriert: wenn doch alle Wissenschaft zeigt, dass Beschneidung schlimmstenfalls harmlos und bestenfalls voller Vorteile ist, muss sich jeder Betroffene wie ein I-diot vorkommen.
      "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" K.M.
    • Für mich ein sehr beeindruckendes Interview. Als ich die ersten Male von Prof. Franz hörte, war ich ehrlichgesagt skeptisch, er würde als Psychoanalytiker nur Ausschnitte des Traumas anerkennen, die mit der Triebtheorie vereinbar sind ('Beschneidung nur als Gefahr, wenn das Kind in einer bestimmten libidinösen Phase ist'). Aber er kuckt offensichtlich aufs Ganze, was da alles an Trauma zusammenkommt und was zwischenmenschlich geschieht. Also ein wirklich starker Einsatz und ich bin froh, dass er seine Arbeit macht.
      ...Wir haben bis jetzt keine Freiheit des Einzelnen, des Individuums, des Bürgers. [Allen Menschen bei uns ist das Zugehörigkeitsgefühl] am wichtigsten. Sie sind Mitglieder der Nation oder Religion, aber nicht selbstbewusste und -verantwortliche Menschen.
      ein katholischer Theologe in einer Doku über Ex-Jugoslavien

      Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
      Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber. ...
      Khalil Gibran
    • werner schrieb:

      Diese Drohkulisse hat sich bis in die politische Debatte hinein fortgesetzt
      Seit Anfang der öffentlichen Diskussion um kindliche Beschneidung frage ich mich, ob und wie sich ein solches Ritual, soweit es massenhaft praktiziert wird, mit allen seinen psychologischen und kulturellen Implikationen und Konsequenzen zugleich in einem öffentlichen Unterbewusstsein - wenn es denn so etwas gibt - niederschlägt.
      Aufrichtig zu sein kann ich versprechen, unparteiisch zu sein aber nicht. (JWvG)
      Auch für die Religionsfreiheit gilt: "Freiheit ist immer nur die Freiheit des anders Denkenden." (R.Luxemburg)
    • Suchende schrieb:

      ...Triebtheorie vereinbar sind ('Beschneidung nur als Gefahr, wenn das Kind in einer bestimmten libidinösen Phase ist'). Aber er kuckt offensichtlich aufs Ganze, was da alles an Trauma zusammenkommt und was zwischenmenschlich geschieht.

      Psychoanalyse ist schon lange viel mehr als nur Triebtheorie. Schon Freud hatte die Triebtheorie um die Theorie der - wie es so schön heisst - "Objektbeziehungen" erweitert. Heute spricht man eher von "Beziehunganalyse" als von Psychoanalyse. Da geht es um so Sachen wie Symbiose, Ablösung und Autonomie, und gerade letzteres hat Matthias Franz ja nicht umsonst betont.
      "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" K.M.
    • werner schrieb:

      Natürlich wird Franz mit dem "Argument" konfrontiert werden, dass er als Psychoanalytiker nur Einzelfälle und "Kranke" zu Gesicht bekomme, und keine evidenzbasierte Statistik vorlege. Dass solche Statistiken ebenso dazu dienen können, Betroffene durch Ausgrenzung unter den Tisch fallen zu lassen, wurde kürzlich vor dem Europarat demonstriert: wenn doch alle Wissenschaft zeigt, dass Beschneidung schlimmstenfalls harmlos und bestenfalls voller Vorteile ist, muss sich jeder Betroffene wie ein I-diot vorkommen.

      Ich würde die Geschichte hier aus einem anderen Blickwinkel sehen. Die Opfer, die zu Prof. Franz in Behandlung kommen, sind wie die Unfallopfer im Straßenverkehr. Geht es um Verkehrssicherheit wird auch nicht damit argumentiert, dass zahlreiche Verkehrsteilnehmer trotz aller Umstände "heil" geblieben sind. Vielmehr macht man sich um jeden Verletzen und Verkehrstoten Gedanken bzw. werden immer höhere Standards entwickelt, damit die Betroffenen besser geschützt sind.

      Bei der Zwangsbeschneidung wird irriger Weise der umgekehrte Weg gegangen. Statt durch ein entsprechendes Verbot das Risiko in Richtung Null Prozent zu reduzieren, hat "man" mit dem § 1631d BGB die Grundlage für einen stetigen "Nachschub" an Opfern geschaffen. Würde man die Politiker vom 12.12.12 wie Verkehrsteilnehmer auf ihren Verstand und ihre Vernunft hin überprüfen, würde man diese als nicht fahrtauglich von der Teilnahme am Straßenverkehr ausschließen müssen. In einer Komikernation gelten jedoch andere Regeln.
      Der Unterschied zwischen Dogmatikern und Aufklärern besteht bei der Beschneidungsdebatte darin, dass die einen kindliche Vorhäute und die anderen alte Zöpfe abschneiden wollen. (Quelle: NoCut)
    • NoCut schrieb:

      ...werden immer höhere Standards entwickelt, damit die Betroffenen besser geschützt sind.

      Heribert Prantl schrieb einmal (sinngemäss), dass die Formulierung "nach den Regeln der ärztlichen Kunst" für die Weiterentwicklung der aktuellen Standards offen sei. Die ärztliche Kunst entwickle sich ja ständig weiter.
      Auch die Mohel-Zertifizierung durch den Zentralrat sollte eine Weiterentwicklung der Standards beinhalten. Der Zentralrat sah darin seinen Beitrag zur "Kompromisslösung" Beschneidungsgesetz. Dieser "Kompromiss" fiel ihm genauso schwer wie dem Muslimrat die "Kröte" Berücksichtigung des kindlichen Willens.
      "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" K.M.
    • NoCut schrieb:

      würde man diese als nicht fahrtauglich von der Teilnahme am Straßenverkehr ausschließen müssen.
      Die müssten dann zur MPU. Früher 'Idiotentest'.
      • Die Vorhaut kann mit einer Rosenknospe verglichen werden. Wie eine Rosenknospe wird sie erst blühen, wenn die Zeit gekommen ist. Niemand öffnet eine Rosenknospe, um sie zum Blühen zu bringen (Dr. med. H. L. Tan).
      • Alle Wahrheit verläuft in drei Stadien: Im ersten wird sie verlacht. Im zweiten wird sie vehement bekämpft. Im dritten wird sie als selbstverständlich anerkannt (Arthur Schopenhauer).
      • Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt (Thomas Mann)
    • werner schrieb:

      Heribert Prantl schrieb einmal (sinngemäss), dass die Formulierung "nach den Regeln der ärztlichen Kunst" für die Weiterentwicklung der aktuellen Standards offen sei. Die ärztliche Kunst entwickle sich ja ständig weiter.

      Bei der religiösen Zwangsbeschneidung haben wir das große Problem, dass medizinischer Fortschritt auf eine bewusst konservative Religionsauffassung trifft. Alte Schriften werden konserviert und zeitgemäße Interpretationen werden geächtet. Damit entsteht immer mehr die Situation, dass überspitzt gesagt Steinzeit auf das Computerzeitalter trifft.

      Die "ärztliche Kunst" kann sich als Wissenschaft frei weiterentwickeln. Bei Religionen, die ihren Schwerpunkt darin sehen eben gerade nicht mit der Zeit zu gehen, wird das Spannungsfeld mit der modernen Gesellschaft noch weiter zunehmen. Die Politik hat hier völlig versagt, weil sie den Fortschritt und die Aufklärung an die Vergangenheit verraten hat.
      Der Unterschied zwischen Dogmatikern und Aufklärern besteht bei der Beschneidungsdebatte darin, dass die einen kindliche Vorhäute und die anderen alte Zöpfe abschneiden wollen. (Quelle: NoCut)
    • Der hpd schreibt dazu...

      • Die Vorhaut kann mit einer Rosenknospe verglichen werden. Wie eine Rosenknospe wird sie erst blühen, wenn die Zeit gekommen ist. Niemand öffnet eine Rosenknospe, um sie zum Blühen zu bringen (Dr. med. H. L. Tan).
      • Alle Wahrheit verläuft in drei Stadien: Im ersten wird sie verlacht. Im zweiten wird sie vehement bekämpft. Im dritten wird sie als selbstverständlich anerkannt (Arthur Schopenhauer).
      • Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt (Thomas Mann)
    • NoCut schrieb:

      die ihren Schwerpunkt darin sehen eben gerade nicht mit der Zeit zu gehen
      War das gewollt?
      Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit?! :rolleyes:
      • Die Vorhaut kann mit einer Rosenknospe verglichen werden. Wie eine Rosenknospe wird sie erst blühen, wenn die Zeit gekommen ist. Niemand öffnet eine Rosenknospe, um sie zum Blühen zu bringen (Dr. med. H. L. Tan).
      • Alle Wahrheit verläuft in drei Stadien: Im ersten wird sie verlacht. Im zweiten wird sie vehement bekämpft. Im dritten wird sie als selbstverständlich anerkannt (Arthur Schopenhauer).
      • Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt (Thomas Mann)
    • Der hpd schreibt dazu...

      • Die Vorhaut kann mit einer Rosenknospe verglichen werden. Wie eine Rosenknospe wird sie erst blühen, wenn die Zeit gekommen ist. Niemand öffnet eine Rosenknospe, um sie zum Blühen zu bringen (Dr. med. H. L. Tan).
      • Alle Wahrheit verläuft in drei Stadien: Im ersten wird sie verlacht. Im zweiten wird sie vehement bekämpft. Im dritten wird sie als selbstverständlich anerkannt (Arthur Schopenhauer).
      • Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt (Thomas Mann)
    • Guy schrieb:


      War das gewollt?
      Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit?! :rolleyes:
      Jein. Beim Schreiben war es noch nicht gewollt und nach dem Korrekturlesen habe ich es bewusst so stehen lassen.

      Religion beruht oft auf jahrtausenden alten Traditionen. Werden diese Traditionen gebrochen, bekommt zwar der Glaube wieder mehr Gewicht, aber die Religion geht im gleichen Maße unter. Bei mir persönlich schwirrt noch immer die von mir nur halb verstandene Idee des religionslosen Christentums im Kopf rum: de.wikipedia.org/wiki/Religionsloses_Christentum

      Was aber z.B. ein religionsloses Judentum oder ein religionsloser Islam sein könnte, weiß ich nicht. Vermutlich* würde eine Reduzierung auf den Glauben dazu führen, dass sich die Unterscheidungen der Religionen in nichts auflösen würden *. Das gleiche würde dann natürlich auch für rituelle Beschneidungen gelten.

      * Anmerkung: OK., eine Reduzierung auf Null entspricht ja dem Begriff "in nichts auflösen".
      Der Unterschied zwischen Dogmatikern und Aufklärern besteht bei der Beschneidungsdebatte darin, dass die einen kindliche Vorhäute und die anderen alte Zöpfe abschneiden wollen. (Quelle: NoCut)
    • Ausgangspunkt bei Bonhoeffers Überlegungen zum "religionslosen Christentum" ist seine Zeitdiagnose, dass Gott heute nicht mehr die absolute Priorität im Leben der Menschen hat. Der Mensch sei durch die Aufklärung mündig geworden (was Bonhoeffer positiv sieht), und entscheide nun selbst, wo und wie er Gott in sein Leben lasse. Damit ist - nach Bonhoeffer - jedoch keineswegs der Glaube bzw. die Religion obsolet geworden. Gott existiere nachwievor. Dies dem mündigen Menschen nahezubringen, sei eine (neue) Herausforderung. Bonhoeffer verband diese Aussage mit intensiver Kritik des Klerus.

      Bonhoeffer sah die Bibel als zwar als von Menschen gemacht an, gleichzeitig aber als Ausdruck göttlichen Willens. Die in der Bibel beschriebene abrahamitische Beschneidung bringt nur zum Ausdruck, was Gott eigentlich wollte. In dem Film "Mozart" von Milos Forman formuliert Mozart einmal (sinngemäss), er habe seine Musik nicht erfunden, sondern nur aufgeschrieben, was Gott ihm in die Feder diktiert habe. Was Mozart betrifft, teile ich diesen Eindruck. :rolleyes:
      "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" K.M.