Die Methode "Ratz-Fatz"

    • Die Methode "Ratz-Fatz"

      Nachdem der verbale Eiertanz um die "Anästhesie" bei Säuglingsbeschneidungen ("adäquat", "angemessen", " ausreichend", "möglichst") gründlich in die Hose gegangen ist, wird wieder die Frage, ob nicht die Zeitspanne, in der die Beschneidung durchgeführt wird, zum entscheidenden Kriterium für "ärztliche Kunst" wird, virulent.

      Stellvertretend für alle Mohelim, die auf die rasende Geschwindigkeit ihrer "Ratz-Fatz-Methode" hinweisen, sei hier der "Gentle Mohel" zitiert.

      "In any case, it takes five seconds — I actually count every time: “one-1,000, two-1,000,” etc., up to “five-1,000,” and it is done — for a mohel to circumcise, because a mohel uses a Magen shield, not a clamp, and there is almost no application time for a shield."

      Einerseits wird diese Zeit von Prof. Graf locker geschlagen ("...der Schnitt der Vorhaut selber nur 1 Sekunde."), aber nur, wenn man das ganze drumherum weglässt.

      "Die gesamte OP mit Präparation der Vorhaut dauert ca. 2 Minuten."

      Wenn man nun die - wissenschaftlich bereits bewiesene - anästhesierende emotionale Wirkung der Umgebung während der Beschneidung hinzurechnet, ist die rituelle Beschneidung auch diesbezüglich klar im Vorteil. Im Berliner Jüdischen Krankenhaus sieht sich der Säugling einem für ihn völlig anonymen "Team" konfrontiert, das weitgehend unbeteiligt herumsteht.

      "Die Eingriffe werden immer im sterilen OP durchgeführt unter optimaler personeller Ausstattung mit einem chirurgischen Facharzt, einem Assistenten und einem Anästhesieteam einschließlich eines Anästhesisten, auch wenn nur in Lokalanästhesie operiert wird.
      ( Anmerkung: Wir danken Prof. Graf für den Hinweis, dass zu einem Anästhesieteam ein Anästhesist gehört.)


      Ganz anders bei der rituellen Beschneidung.

      "A mohel circumcises the baby...held lovingly by a family member or other person acting as sondek (godfather).


      Auch ist es ein fundamentaler Unterschied, wie der Säugling liegt. Ob nämlich, wie bei der rituellen Beschneidung, "on a pillow" oder im Circumstraint.

      "The mohel follows this procedure instead of using a “circumstraint” (a tray on which a baby lies naked on his back; the baby is restrained from kicking by strapping his arms and legs down with fabric fastener straps)."

      Last but not least überträgt sich die innere Verfassung des Beschneiders auf den Säugling.

      "And, as the doctors are not used to doing this in front of people, they sometimes begin to sweat and get nervous."

      Die Wirkung der prüfenden Blicke des "Anästhesieteams" auf den Beschneider im Jüdischen Krankenhaus kann man sich lebhaft vorstellen.

      Fazit: das Beschneidungsgesetz sollte umformuliert werden. Statt...

      "In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Absatz 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und,
      ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.“
      ...sollte es heissen:

      "In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch Ärzte Beschneidungen gemäß Absatz 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehen zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.“

      Diese Befähigung könnten Ärzte durch eine zertifizierte Ausbildung bei einem Mohel erwerben.
      "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" K.M.
    • Geschichte der Anästhesie

      Die Anästhesie wurde um 1850 erfunden. Davor zeichnete es einen guten Chirurgen aus, möglichst schnell zu operieren, damit der Patient nicht so lange leiden mußte, wenn ihm bei lebendigem Leib wasweißich ab- oder rausgeschnitten wurde. Die "Glücklichen" fielen rasch in Ohnmacht. Daß damals operative Eingriffe nicht so oft überlebt wurden, lag an den fehlenden Desinfektionsmaßnahmen, nicht daran, daß die Operation ohne Anästhesie nicht überlebbar war. Daß die Methode "Ratz-Fatz" keine Diskussionsgrundlage ist, kann jeder Unbefangene ermessen, wenn er sich vorstellt, daß auch das Amputieren eines Beines bei entsprechender "Ausbildung auf Geschwindigkeit" ratz-fatz geht. Macht man aber nicht.

      Die Anästhesie wurde nicht erfunden, weil man eine Operation ohne Anästhesie nicht überleben kann. Die Anästhesie wurde erfunden, weil eine Operation ohne Anästhesie unmenschlich ist. Vor der Erfindung der Anästhesie waren Operationssäle Folterkammern des Schreckens.

      Eine Zirkumzision aus medizinischen oder sogenannten medizinischen Gründen wird in jedem Kindesalter außerhalb des Neugeborenenalters in Allgemeinnarkose durchgeführt. Ein Peniswurzelblock für die postoperative Schmerztherapie wird erst gelegt, wenn das Kind schläft.

      Warum werden also nicht alle Zirkumzisionen bei Kindern und meinetwegen bei Erwachsenen ohne Narkose durchgeführt, wenn das so wenig traumatisch ist?
    • Wakankar schrieb:

      Ein Peniswurzelblock für die postoperative Schmerztherapie wird erst gelegt, wenn das Kind schläft.

      Mir ist noch keine Studie untergekommen, in der ein Peniswurzelblock oder ein Ringblock (mit Lidocaine oder Bupivacaine) bei der Säuglingsbeschneidung gesetzt wurde, als der Säugling schlief. Auch ist in diesen Untersuchungen m.W. nie die Rede davon, dass das damit "nur" der post- operative Schmerz bekämpft werden soll.

      Übrigens fragt man sich, warum Prof. Graf nicht diese Blöcke anwendet, ja, sie noch nicht mal erwähnt, obwohl im Kommentar zum Beschneidungsgesetz durchaus davon die Rede ist. Aus Amerika hört man ja seit 35 (!) Jahren schon staunenswerte Dinge z.B. vom Peniswurzelblock.

      "Circumcision is the only surgical procedure, excluding cord-clamping and cutting, which is routinely performed on normal, healthy newborn infants, usually during the first two or three days of life. Apparently no analgesic technique has been described nor suggested in association with neonatal circumcision. This is the first description of a technique of penile dorsal nerve block in neonatal circumcision. In 52 instances using 0.5 ml of 1% lidocaine (Xylocaine) and a 1.2 cm number 27 gauge needle PDNB was successfully and safely introduced with consistent elimination of pain, rendering NC a painless surgical procedure.
      ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/660375
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    • Peniswurzelblock vs. Allgemeinanästhesie

      In Deutschland ist es "State of the Art", medizinisch indizierte (oder sogenannte medizinisch indizierte) Zirkumzisionen bei Kindern in Allgemeinanästhesie durchzuführen. Auch die Handlungsempfehlungen des Arbeitskreises Kinderanästhesie der DGAI empfehlen isolierte Regionalanästhesieverfahren bei Kindern nur für besondere Ausnahmesituationen.

      Bis zur Beschneidungsdiskussion wäre ich -- und auch meine Kollegen -- nicht auf die Idee gekommen, diesen Eingriff bei Kindern mit ihren zahllosen entwicklungsbedingten Ängsten vor Verstümmelung in Regionalanästhesie durchzuführen.

      Ich weiß, daß Ihr alle aus einem anderen Kontext, sei es als persönlich von ritueller Beschneidung Betroffene oder durch den theoretischen Zugang über die englische Literatur, in dieser Diskussion gelandet seid. Trotzdem kann ich nur immer wieder versichern, daß es mir in meinen inzwischen 26 Jahren Anästhesie nicht untergekommen ist, bei Kindern einen solchen Eingriff in Regionalanästhesie durchzuführen, schon wegen der Schmerzhaftigkeit beim Setzen des Blockes in unmittelbarer Umgebung eines extrem mit Emotionen besetzten Körperteiles (Lokalanästhesie brennt, kennt jeder vom Zahnarzt).

      Ich weiß nicht, was sich die Angelsachsen dabei denken. Und ich weiß auch nicht, ob dort auch die medizinisch indizierten (oder sogenannten medizinisch indizierten) Zirkumzisionen bei Kindern in Regionalanästhesie durchgeführt werden. Hier in Deutschland geschieht das jedenfalls nicht. Ich würde einem Kind so etwas nie antun, auch nicht in "besonderen Ausnahmesituationen". Denn eine Zirkumzision ist kein Notfalleingriff. Ich kann mir für diesen Eingriff keine "besondere Ausnahmesituation" vorstellen, die eine isolierte Regionalanästhesie und die damit verbundene Traumatisierung des Kindes rechtfertigen würde.
    • Ein Schlag ins Gesicht oder auf den Allerwertesten dauert ohne vorbereitende Maßnahmen des Ausholens und Schwungholens sicherlich weniger als eine zehntel Sekunde... und trotzdem ist das Schmerzhaft, eine Körperverletzung und ist verboten. Die Dauer eines Schmerzes kann kein Maßstab für seine Geringfügigkeit sein!

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    • @Wakankar

      Ich bedanke mich, dass Du diese Sachlage hier so klar vermittelt hast.

      Wakankar schrieb:

      ...durch den theoretischen Zugang über die englische Literatur...
      Exakt! Deshalb sind wir ja für Deine Erfahrungen so dankbar.

      Wakankar schrieb:

      Ich weiss nicht, was sich die Angelsachsen dabei denken.

      Naja, offensichtlich will man die Beschneidung auf Teufel komm raus durchführen und scheut nicht davor zurück, sich in eine medizinischen Grauzone zu begeben. Dass dabei auch finanzielle Interessen der Beschneider eine Rolle spielen, ist ja nicht gerade ein Geheimnis. Und das Herumwedeln mit irgendwelchen "Anästhesien" dürfte die Motivationslage ängstlicher Eltern erheblich in die gewünschte Richtung steigern.
      "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" K.M.