Religiöse Freiheit vs. Körperverletzung / körperliche Unversehrtheit

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    • Religiöse Freiheit vs. Körperverletzung / körperliche Unversehrtheit

      Da die letzte Gesetzeserneurung die Definition des Kölner Landesgerichts zur Beschneidung als "Körperverletzung" nicht aufhob, bleibt für mich die Frage:

      Könnte ein religiös beschnittenes Kind seine Eltern bzw. den Beschneider wegen Körperverletzung verklagen?
      Wie lang ist die Verjährungsfrist?
      Hat der Aspekt der "religiösen Freiheit" grundsätzlich Vorrang über die "körperliche Unversehrtheit" und "Körperverletzung"?
      Wie könnte so eine Klage ausgehen?

      Zudem muss die Bedingung "zum Kindeswohl" erfüllt werden. Die Entfernung eines empfindlichen Körperteils und der dadurch entstehende Empfindlichkeitsverlust der Eichel ist grundsätzlich nicht "zum Kindeswohl", sondern lediglich "zum Elternwohl", um deren emotionalen Beweggründe gerecht zu werden.

      Die neue Gesezgebung wurde dilitantisch durchgeboxt, um die vorherige Gesetzeslücke zu schliessen, hat aber eine Menge neue Gesetzeslücken und Inkonsistenzen hervorgerufen.
    • klaus schrieb:

      Da die letzte Gesetzeserneurung die Definition des Kölner Landesgerichts zur Beschneidung als "Körperverletzung" nicht aufhob,...
      Grundsätzlich vertrete auch ich diese Auffassung, es gibt aber auch andersartige Auslegungen des Gesetzes. Der Gesetzgeber hat jedenfalls versucht, die Körperverletzung zu verharmlosen, statt eine verfassungsrechtliche Ausnahme des Artikels 2 Ab. 2 GG über einen Gesetzesvorbehalt zu regeln.

      So findet sich weder im Gesetzestext noch in der Begründung des Gesetzentwurfs (Drucksache 17/11295 des deutschen Bundestags) ein entsprechender Hinweis auf die Einschränkung eines Grundrechtes wie es gem. Artikel 19 (1) GG vorgeschrieben wäre. Es wurde von Seiten des Gesetzgebers die Notwendigkeit für einen expliziten Gesetzesvorbehalt offensichtlich aufgrund der Unterstellung der Geringfügigkeit des Eingriffs nicht in Erwägung gezogen. Dies lässt sich unmissverständlich der Begründung des Gesetzentwurfs auf Seite 15 unter VII. (Vereinbarkeit mit dem Recht der Europäischen Union und völkerrechtlichen Verträgen) entnehmen:

      "2. EMRK und Zivilpakt

      Die Regelung ist auch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar. Artikel 3 EMRK (Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) ist nicht einschlägig, zumal mit einer Beschneidung nach den Regeln der ärztlichen Kunst nur eine geringfügige Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit verbunden ist...


      ...Weder ist der mit der Beschneidung verbundene Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes so erheblich, dass der Staat in das elterliche Erziehungsrecht zum Schutz des Kindes eingreifen müsste, noch wäre die im Grundsatz ebenfalls von der EMRK gedeckte Entscheidung der Eltern von vornherein nachrangig gegenüber einem Eingriff in die Rechte des Kindes."

      klaus schrieb:

      Könnte ein religiös beschnittenes Kind seine Eltern bzw. den Beschneider wegen Körperverletzung verklagen?

      Zivilrechtlich dürfte es schwer sein, solange das Gesetz besteht. Allerdings könnte man eine Verfassungsbeschwerde vorschalten, da der Instanzenweg durch ein verfassungswidriges Gesetz in den Bereich des Unzumutbaren gerückt wird.


      Strafrechtlich könnte der Betroffene zunächst Anzeige erstatten und falls notwendig über Beschwerde, Klageerzwingungsverfahren bis zur Verfassungsbeschwerde gehen, falls kein Gericht vorher ein Normenkontrollverfahren einleitet.


      klaus schrieb:

      Hat der Aspekt der "religiösen Freiheit" grundsätzlich Vorrang über die "körperliche Unversehrtheit" und "Körperverletzung"?

      Das wird in diesem Land angestrebt. Noch sind wir aber nicht ganz so weit.
    • klaus schrieb:

      Könnte ein religiös beschnittenes Kind seine Eltern bzw. den Beschneider wegen Körperverletzung verklagen?
      Wie lang ist die Verjährungsfrist?
      Hat der Aspekt der "religiösen Freiheit" grundsätzlich Vorrang über die "körperliche Unversehrtheit" und "Körperverletzung"?
      Wie könnte so eine Klage ausgehen?


      (welcome) Willkommen im Forum, Klaus!

      Zu Frage 1: theoretisch ja, praktisch wird es schwierig.
      - Zivilrecht: In der Regel steht dem die Verjährung entgegen. Denn der Betroffene muss geschäftsfähig sein, um selbst Klage zu erheben. Solange er minderjährig ist, wird er von seinen Eltern auch in Rechtsstreitigkeiten vertreten.
      - Strafrecht: Bei Straftaten kommt es drauf an, in welche Kategorie man die Beschneidung einordnet. In der Regel wird sie als normale Körperverletzung gewertet, wenn sie von einem Arzt - und jetzt wohl auch von einem Mohel - vorgenommen wird. Dieses Delikt wird nur geahndet, wenn der Betroffene - also das Kind - Anzeige erstattet. In Stellvertretung für das Kind sind die Eltern anzeigeberechtigt. Die Verfolgung von Körperverletzungen anderer Kategorien ist dagegen nicht davon abhängig, dass der Betroffene Anzeige erstattet.

      Zu Frage 2: kommt drauf an. Das Thema hatten wir hier schon erörtert, wenn Du etwas Zeit mitnimmst, kannst Du ja mal in diesem Unterforum danach stöbern oder oben rechts den Suchbegriff "Verjährung" eingeben. Grob gesagt, sofern keine Besonderheiten dazukommen: Zivilrecht 3 Jahre, Strafrecht 5 Jahre.

      Zu Frage 3: nein. Religionsfreiheit ist ein reines Selbstbestimmungsrecht und verleiht bereits seit über 100 Jahren keinerlei Befugnis dazu, in die Rechte anderer einzugreifen (Artikel 140 Grundgesetz i.V.m. Artikel 136 Weimarer Reichsverfassung, dieser Artikel der WRV hat den Rang einer grundgesetzlichen Bestimmung). Irgendwelche Zwänge, Körperverletzungen oder was auch immer, die gegenüber anderen Menschen vorgenommen werden, können NIEMALS mit der eigenen Religionsfreiheit begründet werden. Anderweitige Behauptungen sind schlichtweg gelogen! Auch das Kind ist seinen Eltern gegenüber ein anderer Mensch. Von manchen Protagonisten wird zwar behauptet, die Eltern nähmen auch die Religionsfreiheit des Kindes bis zu dessen Religionsmündigkeit (14 Jahre) wahr und dürften deshalb auch religiös bedingte Körperverletzungen oder andere Misshandlungen an ihrem Kind vornehmen. Das ist aber nicht richtig. Denn erstens handelt es sich auch dann nur um eine Ausprägung des Erziehungsrechts der Eltern und zweitens hat jedes Kind von Geburt an einige persönliche Grundrechte, zu denen auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder die Menschenwürde zählen. Es ist kein Spielzeug der Eltern, kein bloßes Objekt, mit dem die Eltern alles anstellen dürfen, was ihnen einfällt. Zwar geht das Erziehungsrecht sehr weit, weil der Staat davon ausgehen kann und darf, dass die Eltern regelmäßig nur das Beste für ihr Kind wollen. Die Eltern dürfen ihrem Kind auch ihre Werte mitgeben, seien diese nun religiös bedingt oder atheistisch geprägt oder was auch immer. Das ist ein sehr wichtiges Recht, das allen Demokratien eigen ist. Nur Diktaturen wollen in das elterliche Erziehungsrecht nach ihrem Gusto eingreifen und es lenken. Körperverletzungen, Vernachlässigungen oder entwürdigende Maßnahmen wie etwa Fesselungen sind aber schon deswegen nicht vom Erziehungsrecht umfasst, weil, wie schon erwähnt, dem Kind eigene Verfassungsrechte bezüglich seiner körperlichen Unversehrtheit und seiner Menschenwürde zustehen und weil das Erziehungsrecht nur ein Mandat ist, über dessen Ausübung, wie es im GG heißt, die staatliche Gemeinschaft wacht. Dies wird i.d.R. durch das Jugendamt gewährleistet.

      Innerhalb der zurückliegenden Debatte wurde bezüglich dieser relativ schlichten und leicht zu verstehenden Grundsätze absichtlich viel Verwirrung gestiftet und haltlose Behauptungen über die Medien verbreitet. Die Religionsfreiheit, die eine ausgesprochen wichtige und sinnvolle Errungenschaft der Aufklärung ist, wurde plötzlich als "Ausrede" für eine politische Maßnahme missbraucht, die von ihr niemals gedeckt wurde.

      Zu Frage 4: haha da fragst Du was!! Die Konstellation müsste es ja erst einmal geben, nicht wahr? Ein Mann, der als Kind beschnitten wurde und für dessen Beschneidung das neue Erlaubnisgesetz maßgebend gewesen ist - er müsste also nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes beschnitten worden sein - müsste Klage erheben, ohne dass ihn die Verjährung daran hindert. Wie die Verjährung von Körperverletzungen nach Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes zu werten ist, ist mir auch noch nicht ganz klar. Möglicherweise passiert das.
      Oder irgend eine Staatsanwaltschaft traut sich, Anklage zu erheben wegen eines qualifizierten Körperverletzungstatbestandes.
      In den diesen beiden Fällen könnte das erkennende Gericht das BVerfG fragen, ob denn das Legalisierungsgesetz mit der Verfassung in Einklang stehe. Wenn das BVerfG nicht völlig willkürlich versucht, das Recht falsch anzuwenden, um ein bestimmtes Ergebnis herauszuquetschen, müssten es diese Frage mit "nein" beantworten.
      Oder 1/4 des Deutschen Bundestages legt dem Verfassungsgericht das neue Gesetz zur Prüfung vor. In diesem Jahr finden Wahlen statt, also kannst Du per Kreuzchen versuchen, Einfluss zu nehmen. Die Politiker, die gegen das Gesetz gestimmt haben, sind ja namentlich bekannt.
    • Maria Werner schrieb:

      Grob gesagt, sofern keine Besonderheiten dazukommen: Zivilrecht 3 Jahre...
      Vielleicht sollte dazu gesagt werden, dass die 3 Jahre ab Kenntnis des möglichen Schadensersatzanspruchs innerhalb einer Gesamtverjährungsfrist von 30 Jahren zu laufen beginnen. Eine Informationspflicht gibt es dabei auch nicht, d.h. niemand muss von sich aus Kenntnis über die Verletzung erlangen.

      Ich möchte nur darauf hinweisen, damit nicht jemand zu früh die Flinte ins Korn wirft.
    • Das ist schon richtig, wiewohl auch grob fahrlässige Unkenntnis die Verjährung zum Laufen bringt. Da man sich über die Folgen der Beschneidung gut informieren kann, ist hier Obacht geboten. Wer klagt, sollte also unbedingt rechtsschutzversichert sein und von seiner Versicherung eine Deckungszusage für das Verfahren erhalten haben. Sonst wird das schnell sehr teuer, weil man alle Prozesskosten tragen muss, wenn man verliert: die eigenen, die des Gegners und die Gerichtskosten.

      Grundsätzlich halte ich persönlich es jedoch immer für sinnvoll, zu klagen. Auch dann, wenn man verliert. Mit jeder Klage werden die Gerichte bezüglich des Problems "geimpft" und erhalten einen Eindruck davon, was Beschneidung jenseits aller Fabeln und Märchen wirklich ist. Und die reden darüber auch miteinander.
    • Maria Werner schrieb:

      Zu Frage 1: theoretisch ja, praktisch wird es schwierig.

      Maria Werner schrieb:

      Zu Frage 2: kommt drauf an.

      Maria Werner schrieb:

      Zu Frage 4: haha da fragst Du was!!
      Aha, Jura und Medizin sind also exakte Wissenschaften :D
      Aber, herzlichen Dank für die ausführliche Erläuterung, Maria!
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