"Die ganze Wahrheit ... was Sie schon immer über Juden wissen wollten"

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    • "Die ganze Wahrheit ... was Sie schon immer über Juden wissen wollten"

      heißt eine Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin, die vom 22. März bis 1. September 2013 zu sehen ist und in der auch die Beschneidung thematisiert wird:

      "... auf die Frage: »Muss ein Jude beschnitten sein?« antwortet Ihr Autor Toby Lichtig, selbst beschnittener Jude, mit »nein« und erklärt dem Unwissenden, in aller Offenheit, dass es endlich an der Zeit sei, darüber nachzudenken, auch bei Juden auf die Beschneidung zu verzichten." (Leeor Engländer in der Eröffnungsrede zur Ausstellung)
      Jüdische Allgemeine / KULTUR / Jüdisches Museum - »Eine bodenlose Frechheit«
      Der englische Dokumentarfilmer Toby Lichtig hatte schon im vergangenen Jahr recht Kritisches zur Beschneidung geschrieben:
      Circumcision: time to cut it out? | Rationalist Association

      Mehr zur Berliner Ausstellung
      Jüdisches Museum Berlin - Sonderausstellung: DIE GANZE WAHRHEIT … was Sie schon immer über Juden wissen wollten
      und zum Ausstellungskatalog (100 Seiten):
      Jüdisches Museum Berlin - Zeitschriften
    • Was ist typisch jüdisch? Vielleicht die Art des feinsinnigen Humors, den uns Leeor Engländer hier in Vollendung präsentiert.

      Im Rahmen der Beschneidungsdebatte, die ja erst mit einer weltweiten Ächtung von Zwangsbeschneidungen verstummen wird, kamen vom Zentralrat der Juden Äußerungen, die ich persönlich als äußerst unsympathisch einstufen würde. Leeor Engländer schafft es mit seinem Schreibstil und seiner Ironie hier wieder eine Brücke zu schlagen, welche uns zur Realität zurück bringt.

      Juden, Moslems und Christen werden von geistigen "Anführern" in der Öffentlichkeit vertreten, die dem Ansehen des einzelnen Gläubigen schaden (können). Wichtig ist daher das eine vom anderen zu unterscheiden. Leeor Engländer weckt hier bei mir Erinnerungen an Menschen wie Hans Rosenthal und zeigt uns wieder, dass die Wahrnehmung einer Gemeinschaft nicht auf einige wenige reduziert werden darf, die sich in unseren Augen in der Öffentlichkeit eher negativ hervortun.
      Der Unterschied zwischen Dogmatikern und Aufklärern besteht bei der Beschneidungsdebatte darin, dass die einen kindliche Vorhäute und die anderen alte Zöpfe abschneiden wollen. (Quelle: NoCut)
    • Die Ausstellung ist wohl wirklich sehr gut, lehrreich und liberal. Wie offen und ehrlich dort über den Brauch der Beschneidung nachgedacht und zum Nachdenken angeregt wird, mögen die folgenden Zitate aus dem Aufsatz von Toby Lichtig im Ausstellungskatalog zeigen:
      Als ich acht Tage alt war, wurde meine Vorhaut von einem wohlgesinnten religiösen Fachmann, genannt Mohel, entfernt. Ein Toast wurde ausgebracht, Schultern wurden geklopft, und mein Glied war für immer verändert. ...

      33 Jahre später und frisch verheiratet (mit einer Nichtjüdin, zufälligerweise), stelle ich in Aussicht, einen hypothetischen künftigen Sohn nicht beschneiden zu lassen. Meine geliebte liberale Familie ist entrüstet und tief verstört. Mein Vater möchte gar nicht erst darüber reden. Meine Mutter fragt: „Willst du nicht, dass dein Sohn so aussieht wie du?“ ... Mein Einwand, er könnte ja auch andere Augen oder Haare haben als ich, stößt auf taube Ohren. ...

      Der aktuelle Aufruhr (in der Beschneidungsdebatte) kommt keineswegs aus dem Nichts. Zum einen schwillt ein Chor von Menschenrechtsaktivisten und Medizinern an, der aus guten Gründen gegen den Brauch argumentiert. Zum anderen fordern Geistliche Toleranz für religiöse Sitten. ...

      Die Beharrlichkeit der Religionsfolklore lässt sich auch noch anders erklären. Aus dem unstrittigen Argument, die Beschneidung habe eine verminderte Sensibilität an der Penisspitze zur Folge, leiten manche ab, sie reduziere auch das männliche Lustempfinden. Ob an diesem unbehaglichen Gedanken etwas dran ist oder nicht: Religionsgelehrte haben den Brauch jahrtausendelang genau deshalb für segensreich befunden. So schrieb der große jüdische Philosoph Maimonides im 12. Jahrhundert: „Was die Beschneidung angeht, so halte ich für einen ihrer Gründe den Wunsch nach einer Abnahme des Geschlechtsverkehrs und einer Schwächung des fraglichen Organs.“ Die fehlende Vorhaut sollte bewirken, dass wir weniger auf den Penis und mehr auf Gott achten. Kann es sein, dass jeder Schnitt am Genital – nicht nur am weiblichen – auf den Wunsch zurückgeht, die menschliche Sexualität einzudämmen? Zumindest waren noch 800 Jahre später, in einer Welt vor „Portnoys Beschwerden“, die Viktorianer überzeugt, die Beschneidung hindere Jungen an der Onanie. ...

      Ein Bericht im Journal of Public Health von 2010 belegt, dass aus einer Gruppe von 29 an einer Islamschule in Oxford beschnittenen muslimischen Kindern 45% sich als direkte Folge der Operation medizinische Probleme einhandelten. Im Februar 2012 verblutete in Queen’s Park, London, der 28 Tage alte Angelo Ofori-Mintah nach seiner Beschneidung, und 2010 war der Säugling Goodluck Caubergs an den Folgen des Schnitts gestorben. ...

      Diese Beispiele sind nicht bloß unglückliche Ausnahmen. Auf jeden Extremfall, der in die Medien und vor Gericht gelangt, kommen hunderte hässliche Pannen, von denen niemand erfährt. ... Zumeist undokumentiert: Das Kind wird genäht und heimgeschickt, der Täter nicht angezeigt, keine Kritik geübt. Kulturelle Feinfühligkeit geht über den Schutz des Kindes. ...

      (Es folgen Ausführungen zu den Herpes- und Todesfällen aufgrund von Metzitzah b’Peh in New York.)

      Jedes Land hat anscheinend seine eigenen Beschneidungs-Horrorgeschichten. Doch die meisten Menschen verschließen die Augen. Konservative mögen keine Bevormundung, Liberale sorgen sich um kulturelle Sensibilitäten. Dabei sind unserer Gesellschaft die Genitalien ihrer Kinder doch sonst nicht gleichgültig. Vielleicht ändern sich die Zeiten gerade. ...

      Klar ist: Wir brauchen eine erwachsene Debatte darüber, wie es weitergehen soll. Zuerst müssen wir uns fragen, ob es nötig ist, unsere Söhne zu beschneiden. Wenn wir darüber offen reden, wird vielleicht der gesellschaftliche Wandel den Brauch eher abschaffen als jedes Gesetz es könnte. Als zweites sollten wir entscheiden, ob es an der Zeit ist, die Prozedur nicht mehr zuhause vorzunehmen. Zwar würde sich die jüdische Gemeinde mit Zähnen und Klauen dagegen wehren, dass sich die Gesundheitsbehörde hier einmischt, und sich jeder Regelung widersetzen. Doch hat die Religion im Lauf der Jahrhunderte immer wieder gezeigt, dass sie kompromissfähig ist. ... Auch mit Gott ist Fortschritt möglich.

      Toby Lichtig: Muss man als Jude beschnitten sein? In: JMB Jüdisches Museum Berlin Journal 2013/Nr. 8, Die ganze Wahrheit, S. 20-25 (Übersetzung ins Deutsche von Michael Ebmayer)
      Originalveröffentlichung in Englisch: Circumcision: time to cut it out? | Rationalist Association
      Der Ausstellungskatalog "Die ganze Wahrheit" (JMB Journal Nr. 8, 2013) kann beim Jüdischen Museum Berlin kostenlos angefordert werden: Janine Lehmann, [email protected]
    • Benni schrieb:

      Kulturelle Feinfühligkeit
      Was für ein netter Begriff für falsch verstandene Toleranz!
      • Die Vorhaut kann mit einer Rosenknospe verglichen werden. Wie eine Rosenknospe wird sie erst blühen, wenn die Zeit gekommen ist. Niemand öffnet eine Rosenknospe, um sie zum Blühen zu bringen (Dr. med. H. L. Tan).
      • Alle Wahrheit verläuft in drei Stadien: Im ersten wird sie verlacht. Im zweiten wird sie vehement bekämpft. Im dritten wird sie als selbstverständlich anerkannt (Arthur Schopenhauer).
      • Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt (Thomas Mann)
    • Gut beobachtet, Guy.
      Toby Lichtig's Text ist nicht frei von Sarkasmus und feiner Ironie. Die "kulturelle Feinfühligkeit", die "über den Schutz der Kinder geht", und die "kulturellen Sensibilitäten", um die "sich die Liberalen sorgen", haben für die betroffenen Kinder leider für immer "die verminderte Sensibilität an der Penisspitze zur Folge". Im englischen Text 3 mal "sensitivity".
    • Wie großartig

      von Toby Lichtig und aber auch von den für den Katalog Verantwortlichen.
      Widerlegt er doch klar die "Todesstoß"-Legende.
      Nun braucht es noch jüdischer Deutscher, die genau solche Äußerungen unterstützen und die Diskussion eröffnen.
      Warum schweigen die bisher?
      So ein Artikel im Katalog einer Ausstellung des Jüdischen Museums ist doch eine gereichte Hand.
    • Naja mal sehen, die Tatsache, dass Michelangelo seinen David intakt darstellte (aber mit etwas zu klein geratenem Geschlecht und mit einer zu großen rechten Hand), hat ja nicht unbedingt eine Bedeutung für Fragen des Judentums. Michelangelos David war eine Demonstration des Selbstbewusstseins der florentinischen Bürger gegenüber Adel und Klerus und verfügt dementsprechend über eine eigene Symbolik (zu große rechte Hand = Macht, Selbst-Ermächtigung; lässige Haltung = keine Demut; Symbol des David gegen Goliath = Widerstand gegen das vermeintlich Größere und Stärkere usw.).

      Der Trailer greift m.E. lediglich die Debatte auf, weil sie nun einmal existiert - trotz aller Bemühungen, sie im Keim zu ersticken - und wie man sich der Frage am Ende stellt, ist nicht gesagt. Wenn im Ausstellungskatalog wieder nur billige Propaganda zu lesen gewesen wäre, hätte das die Bürger wohl kaum hinter dem Ofen hervorgelockt.