Wie wichtig sind medizinische Belege eigentlich für die Debatte?

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    • Wie wichtig sind medizinische Belege eigentlich für die Debatte?

      Neulich wurde in einer englischsprachigen Facebookgruppe die Möglichkeit einer angeblich HIV-Impfung (was ich durchaus für möglich halte) mit der Überschrift "Is this the end of circumcision?" (deutsch: "Ist das das Ende der Beschneidung?") gepostet, bei der ich übernächtigt und wohl nicht ganz nüchtern einen längeren Gedanken geschrieben habe, der mir selbst erst so allmählich selbst aufleuchtet. Sobald ich rausgefunden habe, wie ich das verlinke, kommt das natürlich hier rein.

      Der Originaltext:

      "Probably not. I think circ is not performed because of scientifical evidence, but some people want it to be performed and searching therefore for scientifical evidence (at least that's what it is called...) to justify it. Basically the argumentation is totally messed up if you look a little bit closer: "Circ prevents illness X" vs. "We want to circ and defend this practice with evidence Y". Personally I actually could live quite better with people defending circ because of their belief in scientific evidence. It is still insane, of course. What really offends me are people defending their wish and needs to circ and try to justify this by medicinical studies. "It is evidently better" (even if it is not) is still not the same as "I want it by every price". Both parties often use exactly the same words, the fundamental difference is: The first party at least questions circ after destroying the studies which their belief in this practice is based on, the second party will citate other studies etc after questioning their evidence. They want circ so badly they don't hesitate to invent even new diseases to just keep the practice going. Little example from germany: Circ prevents anal cancer! (It is nowhere explained what anal cancer actually is - it could describe A LOT of things). The one side are doctors with wrong results, the other one are simply perverts. Religious fanatics mostly belong to the second type I think - justifying a practice by whatever is necessary, even if the practice is unnecessary itself."

      Übersetzung für diejenigen, die sich im Englischen nicht wohlfühlen (etwas holprig, ich übersetze nur ungern):

      "Wahrscheinlich nicht. Ich denke, die Beschneidung wird nicht aufgrund von wissenschaftlichen Beweisen durchgeführt, sondern weil manche Menschen wollen, dass sie durchgeführt wird, und dafür nach wissenschaftlichen Beweisen (heisst zumindest so...) suchen, um es zu rechtfertigen. Grundsätzlich ist die Argumentation damit auf den Kopf gestellt, wenn man etwas genauer hinsieht: "Beschneidung verhindert Krankheit X" gegen "Wir wollen beschneiden und verteidigen diese Praxis mit Nachweis Y". Persönlich könnte ich tatsächlich wesentlich besser damit leben, wenn die Beschneidung aufgrund des Glaubens an wissenschaftlicher Beweisführung verteidigt wird. Es ist immer noch wahnsinnig, natürlich. Wovon ich mich wirklich angegriffen fühle sind Leute, die ihren Wunsch und Verlangen zu Beschneiden mit medizinischen Studien verteidigen. "Es ist nachweisbar besser" (auch wenn das nicht der Fall ist) ist nicht das selbe wie "Ich möchte das um jeden Preis." Beide Parteien benutzen oftmals exakt die gleichen Worte, der fundamentale Unterschied ist: Die erste Gruppe hinterfragt die Beschneidung wenigstens, nachdem die Studien, auf die sie ihren Glauben in die Praxis gründen, widerlegt worden ist, die zweite Gruppe wird andere Studien zitieren etc, nachdem deren erster Nachweis angezweifelt wurde. Sie möchten so dringend beschneiden, dass sie nicht zögern, neue Krankheiten zu erfinden, nur um die Praxis weiterzuführen. Kleines Beispiel aus Deutschland: Beschneidung verhindert Analkrebs! (Nirgends wurde erklärt, was genau Analkrebs eigentlich ist - es kann eine Menge beschreiben!). Die eine Gruppe sind Ärzte mit falschen Ergebnissen, die anderen schlicht Perverse. Religiöse Fanatiker gehören meistens zur zweiten Gruppe denke ich - eine Praxis rechtfertigen mit allem was nötig ist, auch wenn die Praxis an sich nicht notwendig ist. "

      Was ich damit nun eigentlich umständlich in den Raum stellen will - wie wichtig sind nun tatsächlich sog. medizinische Belege für die Debatte oder die Rechtfertigung - oder sogar Empfehlung - der Verstümmelung? Selbst wenn ein HIV-Impfstoff, meinetwegen auch Syphilis- und sonst alles, entwickelt würde - hätte das tatsächlich Einfluss? Gelegentlich, wenn ich einen ganz schlechten Tag habe (und die habe ich seit meinen ersten Restoringversuchen häufiger), denke ich - nein. Dann tauchen neue Krankheiten auf, neue Komplikationsbilder, die mit diesem Allheilmittel behandelt werden sollen... dass der Kernpunkt vielleicht gar nicht der Wunsch nach einem Heileingriff ist, der womöglich fehlschlagen kann, sondern der Wunsch nach einer Praxis aus welchen seltsamen Gründen auch immer, dem es glücklich entgegen kommt, dass die eine oder andere mal nicht sofort widerspricht.

      Könnte es nicht viel mehr sein - und das ist vielleicht erstmal nur eine böswillige Unterstellung - dass sämtliche möglichen Studien, die die Beschneidung als nicht vorteilhaft erachten, gar keinen großen Einfluss haben können, da sie ohnehin gar nicht als Grund, sondern nur als Vorwand genommen werden? Dass es im Kern gar nicht wirklich um Medizin/Gesundheit geht?

      Soviel erstmals
      LG Beatrix
    • Das ist ganz sicher so. Es war in der Geschichte der Beschneidung stets so, dass wenn eine medizinische Begründung sich als haltlos oder nicht mehr einschlägig herausgestellt hat, hat man wieder neue angebliche Vorteile gefunden. Man steht bei der Beschneidung eben nicht vor einem Problem und sucht eine Lösung, sondern man hat eine Lösung und sucht das Problem. Es ist ja auch so, dass all diese medizinischen Vorteile ja alle nicht so ausreichend sind, dass man, ginge es nicht um die Penisvorhaut, da irgendein anderes Körperteil für entfernen würde. Vergleichbar müssten wir ja bei Mädchen die Brüste entfernen, um sie vor Brustkrebs zu schützen. Für mich ist die Sache ziemlich klar: Es gibt Beschneidung, man verdient daran, Eltern und Großeltern haben es getan bzw. einem angetan. Das in Zweifel zu ziehen ist teurer (emotional und finanziell) als einzugestehen, dass man diese oder man selber einen Fehler gemacht haben. Man hat und man wird daher stets nach neuen Rechtfertigungen suchen.
    • Ed Wallerstein: For American society, circumcision is a solution in search of a problem, a social custom disguised as a medical issue.
      • Die Vorhaut kann mit einer Rosenknospe verglichen werden. Wie eine Rosenknospe wird sie erst blühen, wenn die Zeit gekommen ist. Niemand öffnet eine Rosenknospe, um sie zum Blühen zu bringen (Dr. med. H. L. Tan).
      • Alle Wahrheit verläuft in drei Stadien: Im ersten wird sie verlacht. Im zweiten wird sie vehement bekämpft. Im dritten wird sie als selbstverständlich anerkannt (Arthur Schopenhauer).
      • Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt (Thomas Mann)