Beschneidung mit 9, Leiden bis heute

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    • Beschneidung mit 9, Leiden bis heute

      Mein Genital wurde gegen Ende der 1980er Jahre im Alter von neun Jahren verstümmelt. Ja, ich verwende nicht den Euphemismus "Beschneidung", denn ich lehne es ab einen Akt der Gewalt, der einen Teil meiner Jugend unwiederbringlich zerstört hat und mein restliches Leben wahrscheinlich auch negativ beeinflussen wird, in irgendeiner Weise beschönigend darzustellen. Auch wenn meine Eltern ihr Einverständnis zu diesem Eingriff gegeben haben, trifft sie keinerlei Schuld. Zu dieser Zeit gab es für Nicht-Mediziner praktisch keine Möglichkeit, sich unabhängig von Ärzten zu medizinischen Themen zu informieren; und zu meinem Leidwesen haben mehrere Ärzte dazu geraten, meine Vorhaut abschneiden zu lassen, da ich an einer Vorhautverengung leiden würde. Das schlimme daran war, dass - wie ich von meinen Eltern erfahren habe - ihnen von den Medizinern mit eindeutigen Lügen regelrecht Angst eingejagt wurde. So wurde z.B. behauptet, dass ich aufgrund der Vorhautverengung impotent und unfruchtbar werden könne und nur eine Operation, die das Problem beseitigt, dafür sorgen könne, dass diese Folgen nicht eintreten. Selbst in der Einverständniserklärung zu dieser Operation ist mit keiner Silbe erwähnt, wie die "Beseitigung der verengten Vorhaut" vonstatten gehen sollte. Doch es kommt noch besser: Im Nachhinein, nach dem Studium des damaligen Operationsberichts, habe ich Erfahren, dass es sich in meinem Fall nicht um eine Phimose gehandelt hat, sondern um eine Verklebung der Vorhaut. Die Amputation der Vorhaut war also in jedem Fall überflüssig; ich selbst kann in diesem Zusammenhang nur von einer Fehldiagnose und damit einhergehend mit einer Fehlbehandlung sprechen. Was die ganze Sache für mich persönlich noch schlimmer macht, ist ein Satz, der die Folgen dieses Eingriff zusammenfasst: Ich habe nie an der verklebten Vorhaut gelitten, sondern an den Folgen der Verstümmelung.
      Aufgrund der fehlerhaften Aufklärung der Ärzte, hatten meine Eltern natürlich nicht genügend Wissen darüber, was mit mir passieren würde. Folglich bekam ich von ihnen auch falsche Informationen in der Art, dass es hieß, es würde nur ein kleiner Schnitt an der Unterseite meines Geschlechtsteils gemacht, um die Verengung zu beheben. Umso größer war für mich der Schock beim ersten Verbandswechsel. Auch wenn es vielleicht hart klingt: das was ich in diesem Moment zwischen meinen Beinen sah, war nicht mehr mein Geschlechtsteil; ich empfand es als Fremdkörper. Und in gewissem Sinne empfinde ich noch immer so, wenn auch nicht mehr so stark wie zu diesem Zeitpunkt.
      Es dauerte zwar einige Wochen, aber die physische Wunde verheilte weitestgehend. Konkret bedeutet dies, dass der Arzt bei der Nachuntersuchung von einem "kosmetisch hervorragendem Ergebnis" gesprochen hat. Für ihn muss es wohl ein Schreck gewesen sein, als ich von einem Fleischfetzen gesprochen habe. Es war auch für die nächsten elf Jahre - bis auf eine unfreiwillige Ausnahme - das letzte Mal, dass mich jemand nackt gesehen hat.
      Diese eine Ausnahme passierte im Alter von etwa zwölf oder dreizehn, als mir ein Klassenkamerad in der Umkleide beim Schulsport (Schwimmunterricht) die Badehose heruntergezogen hat. Damit begannen Jahre der Hänselei wobei "Türkenpimmel" oder "Stummelschwanz" noch die harmlosesten Ausdrücke waren, die ich aushalten musste. Ich betone ausdrücklich, dass das folgende nicht rassistisch gemeint ist: damals war für mich die schlimmst mögliche Beleidigung, wenn ich gefragt wurde, ob ich Jude oder Moslem wäre.
      Dieses Ereignis führte nur dazu, dass ich Ausreden finden und mich verstecken geradezu perfektionierte. Dies gipfelte darin, dass ich nie an Jugendfreizeiten oder Schullandheim-Aufenthalten teilgenommen habe, einfach weil ich in bestimmten Punkten niemandem mehr vertrauen konnte und kann; selbst an der praktisch obligatorischen Konfirmanden-Freizeit habe ich nur teilgenommen, weil mit versichert wurde, dass ich ein Einzelzimmer haben könne; in einem anderen Fall wäre ich wenn nötig auf eigene Faust sofort wieder nach Hause gefahren.
      Ärztliche Untersuchungen, inklusive in der Schule und auch bei der Musterung habe ich abgelehnt. Diese Verweigerungen hätte und habe ich im Fälle des Schularztes mit allen notwendigen Mitteln durchgesetzt.
      Zu den Hänseleien und der Scham kamen auch noch physische Probleme. Diese äußerten sich einerseits darin, dass meine Glans nicht unempfindlicher wurde, weshalb ich das Ding schon als Jugendlicher lokalanästhetisch "ausschalten" musste. Dort im wahrsten Sinne des Wort nichts mehr spüren zu müssen war die reinste Wohltat; leider war dies aber nie von Dauer.
      Auf der anderen Seite ist bei mir eine wohl meistens unterschätzte Nebenwirkung der Genitalverstümmelung aufgetreten: es ist ausgeschlossen, dass ein Arzt bei der Vorhautamputation an einem Kind auch nur annähernd abschätzen kann, wie groß das Geschlechtsteil sein wird, wenn der Junge eines Tages erwachsen ist. Es ist wirklich kein Spaß, wenn man als Jugendlicher, der eigentlich seine Sexualität entdecken und erforschen sollte, jede Erektion verflucht, weil dort unten wegen zu geringer Hautreserve alles spannt.
      Im Alter von 18 Jahren habe ich angefangen, mich mit dem Thema Vorhautrekonstruktion zu befassen, entsprechende Literatur studiert und nach einem Arzt gesucht, der auf diesem Gebiet versiert ist. Aussagen, die von "ich kann mir nicht vorstellen, dass man da irgendwas machen kann" über "finden Sie sich damit ab" bis zu "suchen Sie sich eine Psychiater" habe ich mir mehrfach anhören müssen, bis ich nach zwei Jahren endlich fündig geworden bin. Dieser Arzt nahm mich endlich mit meinem Wunsch ernst und legte die Fakten auf den Tisch: eine Rekonstruktion der Vorhaut war möglich, jedoch war es fraglich, ob dies durch dehnen funktionieren würde, da bei mir sehr wenig Resthaut, sprich praktisch keine Hautreserve, vorhanden war. Ich probierte es zunächst über einen Zeitraum von mehreren Monaten hinweg unter Verwendung von kortison- und testosteronhaltingen Salben durch Dehnen. Wie befürchtet blieb ein Erfolg aus, sodass ich mich weiteren Operationen unterziehe musste, um zumindest wieder so etwas wie eine Vorhaut wieder zu bekommen. Da für mich nur ein kosmetisch 100% perfektes Ergebnis in Frage kommt, wurde ich im Rahmen der Rekonstruktion bisher 5x operiert, wobei jedes Mal ein besseres Ergebnis erzielt wurde. Mindestens zwei weitere Eingriffe und eine anschließende Anpassung der Hautfarbe durch Mikropigmentierung werden wahrscheinlich noch nötig sein, damit es niemandem mehr möglich ist, meine Verstümmelung auch nur zu erahnen. Und diese Weg werde ich bis zum Ende gehen. Ob es richtig ist, vermag ich nicht zu sagen, aber es ist mein Recht dies zu tun. Nachdem mir das Recht auf körperliche Unversehrtheit genommen wurde, kann, will und werde ich alles in meiner Macht stehende unternehmen, um den Schaden zu 100% zu lassen.
      Hänseleien, verstümmeltes Geschlechtsorgan, Schmerzen und das Gefühl, kein Geschlechtsorgan im eigentlichen Sinne zu haben, haben natürlich Spuren hinterlassen: Ich konnte und kann mit Sexualität nichts anfangen. Dies und die Tatsache, dass ich nicht will, dass eine potentielle Partnerin jemals etwas von meiner Verstümmelung erfährt, machen eine Beziehung praktisch unmöglich.
      Den physischen Schaden kann man reparieren, mit den Erinnerungen muss ich leider leben, ob ich will oder nicht.

      Falls es irgendwo jemanden gibt, der die männliche Genitalverstümmelung mit Religion rechtfertigen will: Ich würde meine Seele ohne zögern verkaufen, wenn ich diese Verstümmelung ungeschehen machen könnte.
    • Willkommen Ben und danke für deinen (schlimmen) Bericht. Bei einer Vorhautverklebung muss man nicht beschneiden, stimmt. Es ist wirklich ein Skandal; soll man da glauben, dass diese "Experten" es damals einfach nur nicht besser wussten?

      Ich habe vor ein paar Jahren auch einmal im Internet gesucht, ob es Operateure gibt, die eine Vorhautrekonstruktion durchführen. Da erhielt ich von jemand die Info, dass das ein Arzt beherrscht hätte, der aber nun in Rente sei. Anscheinend gibt es dann noch weitere Ärzte, die sich sowas zutrauen?
    • Vielen Dank für deinen Bericht, der sehr authentisch rüberkommt.

      Was mich interessieren würde: vor zwei Jahren begann die Beschneidungsdebatte, ausgelöst durch das Kölner Urteil. Wie hatten diese Veränderungen damals auf dich gewirkt? Was hattest du empfunden, als dann im Dezember 2012 das Beschneidungsgesetz, der § 1631d BGB, verabschiedet worden ist? Die Ereignisse werden ja kaum spurlos an dir vorbei gegangen sein.
    • @Axon
      Der Arzt, der bei mir die ersten drei Operationen durchgeführt hat, ist mittlerweile in Rente. Die vierte wurde von einem Professor in Hamburg durchgeführt, der auch vollständige Rekonstruktionen durchführt.
      Das fünfte und auch die zukünftigen Male wurde und werde ich von einem Urologen operiert, der sich u.a. auf geschlechtsangleichende Operationen spezialisiert hat. Aus meiner Erfahrung kann ich mit gutem Gewissen sagen: der Mann weiß, was er tut!

      @Lutz Herzer
      Das Urteil des LG Köln zur Genitalverstümmelung von Jungen hat mich im ersten Moment sehr überrascht, wohlgemerkt im positiven Sinn. Die daraus entstandene Debatte war zwar eine logische Folge davon, jedoch hat mich die Art, wie diese Debatte geführt wurde, von Beginn an entsetzt.
      Die wenigen Betroffenen, die sich daran beteiligt haben, wurden m.E. praktisch immer sofort niedergemacht, sei es mittels fadenscheiniger Argumentation im Sinne von Hygiene oder durch das Anführen von Studien der WHO. Die meisten Argumente ließen sich schon durch den Einsatz von gesundem Menschenverstand und ohne großes Fachwissen ad absurdum führen. Am schlimmsten aber fand ich die Argumentation vieler Religionsgemeinschaften, die - vereinfacht gesagt - regelmäßig damit argumentierten, dass jeder der sich gegen die Genitalverstümmelung von Jungen ausspricht, wahlweise entweder religionsfeindlich oder gar antisemitisch ist. Alleine der Versuch, so diskutieren zu wollen, zeugt von völliger Realitätsverweigerung und einer latenten Unverschämtheit, die ich sonst im täglichen Leben nur höchst selten erlebt habe.
      Trotz des überraschend positiven und richtigen Urteils, das mich höchst erfreut hat, war mir bereits nach den ersten Aussagen von Politikern zu diesem Thema klar, dass das sprichwörtlich dicke Ende noch kommen würde. Die Aussagen der meisten Politiker gingen praktisch sofort in die gleiche Richtung wie die der Religionsgemeinschaften, die in Deutschland offenbar eine Art heilige Kuh sind. Dies, und die Tatsache, wie unsere Gesetzgeber immer wieder mit dem Grundgesetz und den Grundrechten der Menschen in diesem Land umgegangen sind, ließ in mir die Befürchtung reifen, dass irgendein Weg gefunden werden würde, um die Genitalverstümmelung von Jungen zu "legalisieren".
      Persönlich kann ich meine Genitalverstümmelung nur als eine Art der Vergewaltigung bezeichnen. Das gesamte Vorgehen während der Diskussionen, v.a. die Empathie-Verweigerung gegenüber der Opfer und das daraus resultierende Gesetz waren für mich teilweise nur äußerst schwer zu ertragen. Die ganzen Gefühle der Machtlosigkeit, Hilflosigkeit, der Ärger und die Wut, die ich früher hatte, sind wieder hochgekommen. Ich habe also praktisch alles nochmals erlebt.
      Ich finde es unerträglich, wie mit denen umgegangen wird, die eine Genitalverstümmelung über sich ergehen lassen mussten und hoffe, dass möglichst bald ein jetzt betroffener Beschwerde gegen §1631d vor dem BVerG einlegt und eine Entscheidung getroffen wird, die wirklich dem Wohle der Kinder entspricht.