Beschneidung und Strafrecht - wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages

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    • Wissenschaftlicher Dienst- Aha!
      Es wäre mal interessant zu erfahren, nach welchen Gesichtspunkten derartige " Zusammenfassungen" vorgenommen werden. Der Autor scheint Jurist zu sein. Wer wird zu religiösen Standpunkten, wer zu medizinischen befragt?



      "...Dem entspricht, dass in der Verwaltungsgerichtsbarkeit klagenden muslimischen Eltern ein
      Anspruch gegen die Träger der Sozialhilfe auf Übernahme der Kosten der Zirkumzision und ei-
      ner entsprechenden Familienfeier zugesprochen wurde (OVG Lüneburg, NJW 2003, S. 3290)...."



      Dieses Urteil ist ja nun schon einige Jahre alt. Seine Erwähnung impliziert, daß es sich um eine "normale Familienfeier" ähnlich einer Taufe handelt. Aber ist es nicht so, daß sich auch innerhalb eines Jahrzehnts die Sozialadäquanz ändern kann? Gerade in diesem Fall, der durch die gesamtgesellschaftliche Diskussion erst bei vielen Menschen ein Gefühl und Bewußtsein dafür geweckt hat, was Beschneidung bedeutet und welche z.T. Schwerwiegenden Folgen daraus resultieren können.


      "...

      So wird angenommen, dass die Beschneidung die sexuelle Übertragungsgefahr für viele Infekti-
      onskrankheiten – namentlich AIDS – verringere, weshalb die Weltgesundheitsorganisation
      (WHO) 2007 die Zirkumzision grundsätzlich empfohlen hat..."



      Das ist fachlich falsch.

    • Liebe Ava,

      in der Tat ging es hier nur um eine Einschätzung der Rechtslage (Strafrecht), nicht um alle Aspekte. Man greift dann als Jurist auf die bereits ergangenen Entscheidungen und juristischen Abhandlungen zurück und brieft die Leute mit einer Bestandsaufnahme und einer fachlichen - hier: rein juristischen - Einschätzung.

      Selbstverständlich spielt letztlich die medizinische Beurteilung der Beschneidung, die Funktion der Vorhaut, die möglichen psycho-sexuellen Folgen, die Ausgrenzung des Kindes in einer Gruppe Unbeschnittener usw. usw. eine erhebliche Rolle bei der Bewertung der einzelnen Merkmale. Das WISSEN darüber gewinnt aber erst durch diese Debatte wirklich Oberwasser.

      Sozialadäquanz spielt nur eine sehr untergeordnete Rolle bei der Bewertung. Ihre Relevanz wurde insbesondere im Zusammenhang mit dem "Züchtigungsrecht" von Eltern und Lehrers diskutiert.

      Hierzu schrieb das LG Köln sehr treffend:

      Nach richtiger Auffassung kommt der Sozialadäquanz neben dem Erfordernis tatbestandspezifischer Verhaltensmissbilligung keine selbstständige Bedeutung zu. Die Sozialadäquanz eines Verhaltens ist vielmehr lediglich die Kehrseite dessen, dass ein rechtliches Missbilligungsurteil nicht gefällt werden kann. Ihr kommt nicht die Funktion zu, ein vorhandenes Missbilligungsurteil aufzuheben (vgl. Freund in: Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl., vor §§ 13 ff. Rn. 159; im Ergebnis ebenso: Fischer, StGB, 59. Aufl., § 223 Rn. 6 c, anders noch bis zur 55. Aufl., § 223 Rnr. 6 b; wie hier ferner: Herzberg, JZ 2009, 332 ff.; derselbe Medizinrecht 2012, 169 ff.; Putzke NJW 2008, 1568 ff.; Jerouschek NStZ 2008, 313 ff.; a.A. auch: Rohe JZ 2007, 801, 802 und Schwarz JZ 2008, 1125 ff.).


      Aber wenn überhaupt, ist es in der Tat von Bedeutung, dass sich hier die allgemeine Missbilligung der Beschneidung bei einem Großteil der Bevölkerung durchgesetzt hat und man deshalb nur noch schwerlich dieses Argument heranziehen kann.

      Im Falle des OVG Lüneburg ging es inhaltlich um etwas ganz anderes. Hier der Text der Begründung:

      Die Beschneidung der Antragsteller, die (wie alle Mitglieder ihrer Familie) muslimischen Glaubens sind, ist – entgegen der Auffassung des Antragsgegners – nicht als medizinische Behandlung zu beurteilen, so dass – weil sie zur Besserung von Krankheitsfolgen nicht erforderlich ist – Krankenhilfe gemäß § 37 BSHG nicht zu gewähren ist. Sie hat vielmehr im muslimischen Kulturkreis eine der Taufe im christlichen Kulturkreis vergleichbare religiöse und gesellschaftliche Bedeutung (vgl. Urt. d. Sen. v. 22.9.1993 – 4 L 5670/92 -, FEVS 44, 465). Wie diese ist sie deshalb als besonderer Anlass im Sinne des § 21 Abs. 1 a Nr. 7 BSHG zu werten, für den die im Einzelfall notwendigen einmaligen Leistungen zum Lebensunterhalt gewährt werden. Diese umfassen nicht nur eine private Feier aus Anlass der Beschneidung nach islamischem Glauben (vgl. dazu das genannte Urt. v. 22.9.1993, a.a.O.), sondern auch den notwendigen Aufwand für die Beschneidung(-soperation) als solche. Die Kosten derselben - die einer Phimoseoperation (Nr. 1741 des Gebührenverzeichnisses für ärztliche Leistungen, Anlage zur Gebührenordnung für Ärzte – GOÄ -, Stand: 1.1.2002) vergleichbar ist – schätzt der Senat für den vorliegenden Fall auf insgesamt höchstens 100,-- EURO je Antragsteller (s. die von ihnen vorgelegte Auskunft des Chirurgen vom 22.7.2002).


      Das OVG hat sich nicht die Frage nach einer Körperverletzung gestellt. Es hatte einen Fall zu beurteilen, bei dem es um die Kosten einer zentralen religiösen Feier ging. Hierbei darf es prinzipiell nicht danach unterscheiden, ob es sich um eine christliche, muslimische oder hinduistische Feier handelt, sondern muss all diesen Feiern einen gleichen Rang gestatten, soweit sie gleichrangig zu werten sind. Hierbei fällt auf, dass sich das OVG Lüneburg nicht die Frage gestellt hat, ob eine Beschneidung ggf. auch zu missbilligen sein könnte. Ich möchte das dem OVG in diesem Zusammenhang und bei dieser Fragestellung aber auch nicht zum Vorwurf machen wollen. Dass der Vorgang der Beschneidung als solcher problematisch ist, ist eine Erkenntnis, die in der Tat erst zeitlich später aufkam.

      Heute wäre das Problembewusstsein - aufgrund der Debatte - wohl allenthalben vorhanden.
    • Immer wieder großartig zu lesen, Deine juristischen Analysen Maria Werner. Schön und wichtig, Dich bei uns zu haben! :thumbup:
      Wenn aus Recht Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht! (Bertold Brecht)
      Bräuche und Traditionen können den Menschen an jegliche Abscheulichkeiten gewöhnen (G.B. Shaw)
      Nicht unseren Vorvätern wollen wir trachten uns würdig zu zeigen - nein: unserer Enkelkinder! (Bertha von Suttner)
      tredition.de/autoren/clemens-b…-schnitt-paperback-44889/
    • Liebe Ava,

      Oh da fühle ich mich geehrt! Wobei ich ganz ehrlich zugebe: den besten Job hat Reinhard Merkel gemacht mit seiner klaren, eingängigen Erklärung der einzelnen Grundrechte und ihrer Gewichtung.

      Ich freue mich, dass ich mich auf meine Art einbringen kann, so hier jeder im Team einen unglaublich starken Part einbringt, das ist wirklich ganz außergewöhnlich!