Verzeihen

    Diese Seite verwendet Cookies. Durch die Nutzung unserer Seite erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies setzen. Weitere Informationen

    • Hallo,

      ich lese hier schon eine ganze Weile mit und hab mich jetzt auch entschlossen, mich anzumelden.

      „Wie gehe ich damit um?“ scheint mir eine sehr wichtige Frage zu sein. Einen Teil dieser Frage habe ich für mich persönlich beantworten können. Ich habe meinen Eltern und vor allem meiner Mutter verziehen.

      Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass ich meinen Frieden machen muss mit meiner Beschneidung und allem, was dazu gehört. Das bedeutet nicht, dass ich mich mit den körperlichen Defiziten abfinden muss. Deshalb habe ich beschlossen, eine Wiederherstellung zu beginnen. Dennoch halte ich es für wichtig, mit den Menschen im Reinen zu sein, die zumindest eine Mitschuld haben an dem, was mir passiert ist.

      Ich weiß schon seit langem, dass ich ohne jeden rationalen Grund unters Messer kam. Schon als kleiner Junge hatte ich meine Mutter
      gefragt, warum ich anders aussah, als meine Freunde. Ihre Antwort war damals: „Damit Du sauberer bist“. Das war der einzige Grund. Nur damit ich sauberer bin als all die anderen Jungen, denen nicht am Penis rumgefuhrwerkt wurde.

      Ich war deshalb immer im Kampf mit mir selbst. Einerseits war die Zeit nach meiner OP sehr schlimm, weil sich die Wunde entzündet und ich tierische Schmerzen hatte. Außerdem empfand ich meinen Penis von diesem Zeitpunkt an als furchtbar hässlich und verunstaltet.

      Andererseits war da dieses Urvertrauen zu meinen Eltern, das mich immer wieder denken ließ: „Die haben das nicht gemacht, um mir weh zu tun, sondern, weil sie mein Bestes wollten“.

      Heute weiß ich, dass sie genau das auch bekommen hatten. Mein Bestes.

      Mein Vater hatte sich leider immer sehr aus meiner Erziehung rausgehalten. Er brachte zwar das Geld heim, aber alle wichtigen Entscheidungen mich betreffend hat immer meine Mutter getroffen.
      Und als es dann um mein Genital ging, war es ganz genauso. Vater zuckte mit den Schultern, während Mutter davon sprach, wie sauber ich doch jetzt sei und dass das auch ganz wichtig sei.
      Mit der Zeit habe ich sie dafür verachtet, vor allem, seit ich mit den Nachteilen meiner Beschneidung zu kämpfen habe. Schmerzende
      Erektionen, Masturbation nur mit Gleitmittel, Sex dauert ewig.

      Eine meiner Freundinnen bedauerte es sehr, dass ich keine Vorhaut mehr hatte, sie sagte mir mal, dass sie es von anderen Männern wisse, wie die abgehen können, wenn sie am Frenulum stimuliert werden. Ich konnte an dieser Stelle überhaupt nichts fühlen. Das alles machte mich im Lauf der Zeit so wütend, dass ich den Kontakt zu meiner Mutter abbrach.

      Letzte Woche habe ich es nun hinter mich gebracht. Ich wollte und konnte diese destruktive Stimmung nicht länger aufrecht erhalten und habe erkannt, dass ich was ändern muss. So sehr ich meine Mutter auch für ihren Hygienewahn auch verachtete, ich wusste genau, dass ich keinen Frieden finden würde, bis die Sache zwischen ihr und mir bereinigt war.

      Das Gespräch war sehr lange und vor allem sehr schmerzend. Ich habe schonungslos offen mit ihr gesprochen und ihr wirklich alles gesagt. Dieses Gespräch lief sicher nicht nach den Regeln der Kunst ab, ich habe mich dabei richtig ausgekotzt und musste mich zusammenreissen, nicht zu schreien. Aber das war wichtig, denke ich, denn sie hatte lange blockiert und ihr „das kann doch nicht sein, das hab ich noch nie gehört!“ kam immer wieder. Irgendwann hat sie aber dann verstanden, wie sehr sie mich verletzt hat, in jeder
      Hinsicht.

      Wir haben bis tief in die Nacht geredet und uns am Schluss auch umarmt. Diese Umarmung war das schwierigste, was ich in meinem Leben machen musste, aber ich bin froh, es gemacht zu haben.

      Es geht mir jetzt viel besser, ich kann den Unterschied fast greifen. Ich lebe wieder, mein Zorn hat mich fertig gemacht.

      Meine Mutter hatte es nicht böse gemeint, sie hatte nicht vor, mir zu schaden. Jetzt nachdem diese Last von mir ist, werde ich die
      nächsten Schritte unternehmen, mir so viel wie möglich von dem zurück zu holen, was mir genommen wurde. Denn es war MEINS. Es wäre MEINE Entscheidung gewesen.
    • Toller Bericht, den sich jede Mutter die das plant, durchlesen und überlegen sollte. Und toll, dass es darüber trotzdem nicht zum Bruch zwischen euch gekommen ist. Eltern sind nicht unfehlbar und sie kommen ja auch nicht unbedingt von selber auf den Trichter, dass das ja alles so toll sei, mit der Beschneidung, sondern weil es ja auch leider immer noch oft so kolportiert wird. Und wenn der Arzt da ja auch nichts dagegen hat, wird es ja wohl das richtige sein. Es zeigt aber umso dringlicher, wie wichtig Aufklärung ist.
    • Das ist einer der Berichte, die richtig unter die Haut gehen.
      • Die Vorhaut kann mit einer Rosenknospe verglichen werden. Wie eine Rosenknospe wird sie erst blühen, wenn die Zeit gekommen ist. Niemand öffnet eine Rosenknospe, um sie zum Blühen zu bringen (Dr. med. H. L. Tan).
      • Alle Wahrheit verläuft in drei Stadien: Im ersten wird sie verlacht. Im zweiten wird sie vehement bekämpft. Im dritten wird sie als selbstverständlich anerkannt (Arthur Schopenhauer).
      • Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt (Thomas Mann)
    • Danke, Gustav für diesen Bericht und herzlich willkommen in unserem Forum.
      Es freut mich sehr für Dich, dass Du diesen wichtigen Schritt tun konntest. Ich kann gut nachvollziehen, wie wichtig es ist, reinen Tisch zu machen und mit der Vergangenheit abzuschließen. Nicht um einen Deckel drauf zu machen, sondern im Gegenteil, um damit Steine aus dem Weg zu räumen.
      Ich wünsch Dir alles Gute! :thumbup:
      Wenn aus Recht Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht! (Bertold Brecht)
      Bräuche und Traditionen können den Menschen an jegliche Abscheulichkeiten gewöhnen (G.B. Shaw)
      Nicht unseren Vorvätern wollen wir trachten uns würdig zu zeigen - nein: unserer Enkelkinder! (Bertha von Suttner)
      tredition.de/autoren/clemens-b…-schnitt-paperback-44889/
    • Herzlichen Glückwunsch zu Deinem Gespräch mit Deiner Mutter und vor allem zur Umarmung und zum Verzeihen!

      Und vielen Dank dafür, dies hier mit uns zu teilen.
      Achtsamkeit ist ein aufmerksames Beobachten, ein Gewahrsein, das völlig
      frei von Motiven oder Wünschen ist, ein Beobachten ohne jegliche
      Interpretation oder Verzerrung. (J. Krishnamurti)
    • Vielen Dank auch von mir, Gustav! Willkommen im Forum! (welcome)

      Ich möchte ganz unabhängig hiervon anmerken, dass es für viele Männer wichtig ist, die Wut endlich mal zuzulassen und Abstand zu gewinnen. Manche Männer können ihren Eltern nicht vergeben; auch das hat seinen Raum. Andererseits ist es toll zu hören, dass jemand den Kreis schließt und sich versöhnt. Es war ganz, ganz stark von Dir, auf Deine Mutter zuzugehen, allen Widerständen zum Trotz offen über Deine Gefühle zu reden und am Ende Deine Mutter umarmen zu können. Respekt!
    • Hallo,
      danke für die liebe Aufnahme hier, das tut echt gut! :)
      Überhaupt finde ich, dass man sich bei Euch hier richtig wohl fühlen kann. Es ist wie in einem Raum, den man einfach mal für ne Weile zumachen kann und nur die hinein zu lassen braucht, die man gern mag. Ihr macht das richtig gut, ehrlich!

      Manfred:
      Dass meine Mutter ihren Fehler eingesehen hat, war für mich das allerwichtigste. Und ein paar Mal wäre ich am liebsten aufgestanden und hätte die Tür hinter mir für immer zugemacht, so wütend war ich, weil sie mich nicht verstehen konnte oder wollte. Immer wieder meinte sie, es sei doch nur ein klitzekleiner Eingriff gewesen, es sei zu meinem Besten gewesen und die halbe Welt hält das aus und nur ich nicht.
      Das ging mir am meisten auf die Nerven.
      Ich weiß nicht, was dann letztendlich den Schalter umgelegt hat bei ihr, aber irgendwann hat sie dann gesagt, dass es ihr leid tut und sie mir nicht so weh tun wollte. Das wars dann, was ich hören wollte. Nur diesen Satz.

      Schlimm finde ich, dass immer die, die schon verletzt wurden, sich immer noch mehr Verletzungen anhören und antun müssen.
      Ich fand es so erniedrigend, mit meiner Mutter über meinen Sex zu sprechen, über Masturbation, darüber wie ich mir bei Frauen als Versager vorkomme, weil ich es so selten schaffe, mit meiner Partnerin zu schlafen, ohne ihr weh zu tun und in ihren Augen hinterher sehen zu können, dass es ihr gefallen hat. Dieser Abend, an dem ich das Gespräch mit meiner Mutter hatte war furchtbar anstrengend und ich war hinterher völlig fertig. Aber es hat sich gelohnt.
      Ich bin sehr froh darüber, dass meine Mutter verstanden hat, dass sie mich so eingeschränkt hat und ich glaube es ihr, dass sie genau das nicht wollte. Sie wollte mich nicht einschränken oder gar kontrollieren. Ihr ging es tatsächlich nur darum, dass sie meinen Penis als schmutzig empfand. Sie wollte sichergehen, dass ich immer so sauber wie möglich war und dass ich nicht krank werde oder meine Frau mal irgendwie krank machen würde.
      Aber das ist jetzt vorbei, ich will jetzt nach vorne sehen.
    • Ich glaube schon, dass es ganz wichtig ist, dass der Verursacher des Problems seinen Fehler einsieht. Die eigene Sicht der Dinge ist ja nicht immer die Sicht des Betroffenen. Ich bin selbst nicht beschnitten, habe aber einen beschnittenen Freund, den am meisten stört, dass sein Vater, selbst Arzt, nicht einsehen will, dass die von ihm verordnete Beschneidung unsinnig war. Die schlimmste Aussage: Andere haben damit überhaupt kein Problem. Das ist eine Verschiebung der Schuld am Problem vom Täter auf das Opfer. Anstatt dass der Täter einmal beim Psychiater ausloten will, warum er in einen fremden Körper eingreift um dessen Sexualität nach seinen Vorstellungen zu regeln, will er sein Opfer dort hin schicken, um zu erfahren, wieso es mit der Fremdbestimmung seiner Sexualität Probleme hat. Es ist zwar so, dass sich die meisten Beschnittenen mit Ihrer Genitalverstümmelung abfinden, aber es will sich nicht jeder damit zufrieden geben, dass ein emotionell hochwichtiges Organ von anderen verstümmelt wurde. Es mag für manche religiöse Mutter auch sinnvoll sein, dass die Masturbation durch Beschneidung behindert wird, weil dadurch lobenswerter Weise eine in ihren Augen schwere Sünde verhindert wird. Auch wenn einer im Internet herumschwirrt, der bei jedem diesbezüglichen Thread begrüßt dass er sich ob seiner Beschneidung vor seinem 18. Lebensjahr nicht selbst befriedigen konnte, ist doch für die meisten Betroffenen eine erfüllende Sexualität eine erstrebenswerte Sache. Daher ist glaube ich, eine Entschuldigung des Verursachers der entstandenen Probleme unabdingbar. Es lässt sich alles nicht rückgängig machen, aber wenigstens ein Einsehen dass die Beschneidung dem Betroffenen lebenslange Probleme bereitet, sollte man nach einem aufklärenden Gespräch erwarten können.
    • Hallo Gustav,

      vielen Dank für deinen bewegenden Bericht.
      Schön, dass Du Dich letztendlich mit Deiner Mutter versöhnen konntest. Ich denke, ihre anfängliche "Gegenwehr" war eine Art Selbstschutz. Ich bin ja auch eine "Täter-Mama". Es ist ziemlich schmerzlich einsehen zu müssen, dass man einen Fehler gemacht hat, der noch dazu das eigene Kind betrifft, welches man ja sehr liebt und von dem man eigentlich jeglichen Schaden abwenden will. Dann erkennen zu müssen, dass man selbst für evtl. Schaden verantwortlich bzw. mitverantwortlich ist, kann schwierig und schmerzhaft sein. Sie wollte wohl zunächst sich selbst und auch Dich davon überzeugen, dass das alles gar nicht so schlimm ist. Weil sie mit ihrer Schuld und Deinem Leid überfordert war.

      Eigentlich ist es gut, dass sie es noch am selben Tag wirklich realisierte und sich entschuldigte. Ich kann mir vorstellen, das Andere da länger brauchen...
    • Gustav schrieb:

      Ich lebe wieder


      Hallo Gustav,

      das ist das wichtigste, und das freut mich sehr! Und danke für Deinen Bericht. Die Sache hat viele Facetten. Bei Dir also die "hygienische" Motivation.

      Es werden viel mehr Kinder "auf Mutterwunsch" und ohne medizinischen Grund operiert als man denkt. Und das betrifft keinesfalls nur die Zirkumzision, sondern auch - vom akuten Risiko her gesehen - noch schwerwiegendere Eingriffe. Ich kenne da einige Fälle.
      Das traurige ist, dass sich für solche (durchaus "gutmeinenden") Mütter immer gewissenlose Ärzte finden lassen: "Privatpatient? Who am I to blow against the wind?"
      Da muss endlich ein Riegel vorgeschoben werden, der Staat hat ein Wächteramt. Schöheitsoperationen an Kindern zu verbieten ist ein Schritt die richtige Richtung. Aber ohne ein Verbot der elternwillkürlichen Vorhaut-Amputation ist das unvollständig.

      Viel Erfolg beim "Zurückholen"!
      Ein Erwachsener weiß sich seiner Haut zu wehren.
      Ein Kind aber kann das nicht. Ein Rechtsstaat muss sich schützend vor Kinder stellen.
    • @Anna:


      Ja, zum Teil wars sicher Selbstschutz. Anfangs aber war ihre Ablehnung aber auf alle Fälle ein Ausdruck von Überzeugung, da bin ich mir sicher. Bis sie soweit war, mir WIRKLICH zuzuhören und nachzudenken, blockte sie total ab und wischte alle meine Argumente weg, als sei ich blöd im Kopf. Kleiner Eingriff, nur Vorteile, nie von Nachteilen gehört. Diese Wand zu durchbrechen war hart und tat richtig weh. Es war sehr verletzend für mich, als jemand hingestellt zu werden, der sich seine Probleme einbildet und auf jemanden schiebt, der einem sogar damit helfen wollte. ICH war damit erstmal Täter.

      Später, als ich von diesem Forum erzählte und all den anderen Berichten, die man so im Internet findet, habe ich dann gemerkt, dass ihre automatische Abwehr zumindest langsamer kam. Ob sie wirklich mit aller Konsequenz verstanden hat, was sie getan hat, glaub ich noch gar nicht, das muss sicher noch länger wirken. Für mich ist die Hauptsache, dass sie grundsätzlich bereit war, anzuerkennen, dass ich verletzt bin und sie diese Entscheidung nicht hätte treffen dürfen.


      @Selbstbestimmung:
      Danke Dir, ich freu mich schon drauf, momentan bin ich noch am Suchen, welche Methode und welches Gerät ich verwende.

      Ich finde auch, dass es generell verboten sein sollte, IRGENDWAS an seinen Kindern operativ zu verändern, solang es nicht zwingend sein muss. Ich kann nicht verstehen, dass man zu sowas überhaupt fähig sein kann.


      @ Werner
      Danke, es ist fast, als würde ich in einen Spiegel sehen, wenn ich diesen Bericht lese. Wie vielen Männern muss es noch so ergehen wie mir? Auf alle Fälle kann ich den letzten Satz voll und ganz bestätigen:
      Tomorrow finally feels like a brighter day.
      :)
    • Auch wenn ich vielleicht gerade nur meine sentimentale Stimmung auslebe (und dazu alte Threads wieder hochhole):

      Was Gustav hier gemacht hat, ist Verzeihen. Damit setzt man einen Schlußpunkt unter eine sehr schlechte Erfahrung - und kann danach befreit sich wieder neuen Themen widmen (weil ein Problem abgeschlossen ist). Ansonsten verfängt man sich ewig im Hass und alles wird nur noch schlimmer und trauriger.

      Deswegen ist es sehr wichtig und gut, wenn man verzeihen kann.