Angepinnt Vortrag von Prof. Matthias Franz beim Bundesforum Männer, in Berlin am 24.6.2013

    Diese Seite verwendet Cookies. Durch die Nutzung unserer Seite erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies setzen. Weitere Informationen

    • Vortrag von Prof. Matthias Franz beim Bundesforum Männer, in Berlin am 24.6.2013

      Sehr geehrte Damen und Herren, die Auseinandersetzung um die rituelle, Genitalbeschneidung kleiner Jungen findet seit dem Urteil des Kölner Landgerichts vom Mai 2012 nun auch in Deutschland statt. Es geht um den Konflikt zwischen dem Recht Erwachsener auf Religionsfreiheit mit dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung.


      Die Heftigkeit der Debatte beruht auf tiefgreifenden Ängsten. Das liegt zum einem am Thema. Die an die Beschneidung geknüpfte Kastrationsangst ist die vielleicht stärkste Angst, die Männer überhaupt empfinden. Mit ihr verbundene Denkverbote und Verdrängungsreflexe erschweren die Wahrnehmung von Fakten und tragen zu einer angstverzerrten Verhaltenssteuerung bei. Dies gilt besonders für die häufig als Kastrationsandrohung erlebte Beschneidung von Jungen im Alter von etwa 5 bis 7 Jahren. Erfolgt in diesem Alter ein genitales Trauma können Vertrauensbrüche in der Beziehung zu den Eltern, tief sitzender Groll und starke auf Sexualität und Triebkontrolle gerichtete Ängste auch das Verhalten des Erwachsenen noch beeinträchtigen.

      Angst wird auch ausgelöst durch die Bedrohung der eigenen Identität oder die der sozialen Bezugsgruppe. Genau dies geschieht bei der säkularen Infragestellung religiöser Ritualtraditionen, wenn formuliert wird, dass die Religionsfreiheit Erwachsener an der Körpergrenze von Kindern endet.

      Aber auch die säkularen Kritiker der rituellen Beschneidung haben Angst. Sie fürchten die Beschädigung menschenrechtlicher Grundlagen und des staatlichen Gewaltmonopols durch rational nicht zu begründende klerikale und religiöse Machtansprüche. Sie sehen in einer aufgeklärten Welt keinen Platz mehr für steinzeitliche Verletzungsrituale, wenn sie Kinder betreffen, die sich nicht frei entscheiden oder wehren können. Auch wenn sich demokratische Verfassungsstaaten historisch aus religiösen Gottesstaaten entwickelt haben, existiert aus ihrer Sicht, um in Anlehnung an Habermas zu formulieren, in der Demokratie keine „Lücke“, durch die Religionen wie eine „vorpolitische Substanz“ normativ verbindlich eindringen können.

      Tragischerweise kommen all diese Großängste in der Beschneidungsdebatte zusammen, da gerade der verletzende Akt der Beschneidung als symbolische Kastrationsandrohung identitätsbildend für große Bevölkerungsgruppen ist. Es ist verständlich, dass in religiösen Beschneidungskulturen starke Ängste bestehen, auf die Beschneidung zu verzichten. Aus religiöser Sicht ist sie eine im transzendentalen wie im gruppalen Sinn identitätsstiftende Referenz, kein Trauma, sondern Vervollkommnung und angesichts der Shoah auch ein Überlebenszeichen.
      Wir brauchen deshalb einen Dialog, in dem die Ängste und Schmerzen aller Beteiligten mit einfließen – allerdings auch die der kleinen Jungen.

      Ich selber bin als Arzt und Psychoanalytiker vor 15 Jahren völlig unerwartet mit der Jungenbeschneidung konfrontiert worden. Damals wurde ich von einem etwa 40-jährigen Mann konsultiert, der unter Depressionen, Ängsten und sexuellen Störungen litt. Als türkischer Migrant war er mit einer deutschen Frau verheiratet. Diese Beziehung war aufgrund seiner Beschwerden in Frage gestellt. Auch nach längerem Gespräch erschloss sich mir kein Konflikt, der die Beschwerden des Patienten hätte erklären können. Ich hatte jedoch den Eindruck, dass der Patient mir etwas vorenthielt. Auf Nachfragen schilderte er mir schließlich unter wachsender Anspannung die Geschichte seiner Beschneidung. Er sei mit 5 Jahren von seinem Vater unter Versprechungen und geheimnisvollen Andeutungen zu einem wichtigen Termin gebracht worden. Dort hätte er sich auf einen Stuhl setzen müssen. Mehrere Männer seien auf ihn zugekommen. Er habe dann seine Hose herunter gezogen bekommen und einer der Männer habe ein Messer in der Hand gehabt und sich seinem Glied genähert, an ihm gezogen und das Messer angesetzt. Er selber habe eine panische Angst empfunden und als der Schmerz eingesetzt hätte, hätte er sich aus den Griffen der ihn haltenden Männer in Todesangst freigewunden. Er sei blutend und schreiend davon gelaufen, aber wieder eingefangen und die Beschneidung unter Qualen zu Ende gebracht worden. Während seines Berichtes geriet der Patient zunehmend unter Druck, erblasste, die Stimme versagte und auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Ich hatte derartiges zuvor noch nie vernommen. Der Patient war voller Scham und wohl auch Schuldgefühle über den Bruch seines jahrelangen Beschweigens dieser Kindheitskatastrophe.

      Seit dieser Erfahrung habe ich begonnen mich mit dem Thema der Jungenbeschneidung zu beschäftigen. Ich wollte verstehen, welche Gründe dazu führen kleinen Jungen diesen schmerzhaften, irreversiblen schweren Eingriff mit allen seinen Risiken zuzumuten. Ich stieß bei dieser Arbeit auf viele unerlaubte Fragen und Tabus, enorme Ängste auf allen Seiten und auf große Probleme, Vorwürfe und Ablehnung hier genau hin zu schauen. Seit dem Kölner Urteil ist aber nun auch weiten Kreisen der Bevölkerung in Deutschland klar geworden, dass die Ritualbeschneidung nicht nur von Mädchen sondern auch von Jungen eine Körperverletzung mit erheblichen Risiken darstellt. 70 Prozent der Deutschen lehnten das vom Bundestag beschlossene Gesetz zur Beschneidung von Jungen ab.

      Seitdem ich auf die möglichen körperlichen Komplikationen und psychischen Langzeitfolgen der Beschneidung achten gelernt habe, frage ich meine Patienten gezielt danach – und höre nicht selten traurige Geschichten.
      Einige davon habe ich in einem Buch zusammen mit namhaften Beschneidungskritikern publiziert, das im nächsten Jahr herauskommen wird. Heute bringe ich als Hochschullehrer und Arzt unseren Studierenden und unseren jungen Assistenzärzten bei, ihre Patienten nicht nur nach Mandel- oder Blindarmoperationen zu fragen, sondern auch danach, ob in ihrer Kindheit eine Beschneidung der Vorhaut stattgefunden hat und welche Folgen das nach sich zog. Nicht selten hören wir von verstörenden Erinnerungen, die nicht klein oder schön geredet werden können.
      Wenn man von Befürwortern der rituellen Jungenbeschneidung hört, die Amputation der Vorhaut sei ein harmloser kleiner Eingriff, der auch hygienischen Zwecken dienlich sei oder sogar - wie auf dieser Tagung von Edna Brocke geäußert- bei der Beschneidung werde überhaupt kein Gewebe entfernt, hat dies mit den Fakten nichts zu tun und man fragt sich, welchem Zweck derartig offensichtlich falsche Äußerungen dienen sollen.

      Die Evolution bringt keine überflüssigen Körperteile hervor. Alles hat seinen tiefen Sinn. Das gilt auch für das biologisch hochfunktionale Gewebe der Vorhaut des Jungen. Die Vorhaut ist von Geburt an mit der Eichel verklebt, um die Eichel und das kindliche Genitale zu schützen. Diese Verklebung macht eine Entfernung der Vorhaut bei der Beschneidung besonders schmerzhaft. Nach ihrer natürlichen Ablösung von der Eichel spätestens in der Pubertät verstärken ihre dicht gepackten Tastzellen das Lusterleben während des Geschlechtsverkehrs und tragen so zu einer Vertiefung der Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau bei. Darüber hinaus schützt die Vorhaut die Eichel vor Sensibilitätsverlust, weil die nach der Beschneidung frei liegende Eichel durch Verhornung ihre Lustempfindlichkeit nach und nach verliert. In Bevölkerungsstudien wird deutlich, dass beschnittene Männer und ihre Partnerinnen häufiger unter sexuellen Einschränkungen leiden als unbeschnittene Männer. Schließlich kann die Beschneidung schwere Komplikationen nach sich ziehen, auch wenn sie unter chirurgischen Bedingungen ausgeführt wird.

      Möglich sind abgesehen von seelischen Langzeitfolgen: Schmerzen, Nachblutungen, narbige Verwachsungsstränge an der Eichel mit Erektionsbehinderung, Entzündungsgefahr und der Notwendigkeit weiterer Operationen. Weiter: lokale Wundheilungsstörungen bis zum Verlust des Penis, Wundinfektionen, Sepsis, unbeabsichtigte Teilamputationen der Eichel oder des Penisschaftes, Verengungen der Harnröhrenmündung an der Eichel oder Harnröhren-Fisteln. Die Rate der Komplikationen wird - auch unter Beachtung medizinischer Standards - mit etwa 2% bis 4% angegeben. Häufig liegt sie höher. Bei jährlich Millionen beschnittenen Kindern resultiert eine hohe Anzahl körperlich aber auch seelisch beschädigter Jungen. Zahlreiche Todesfälle wurden in Folge der Beschneidung beschrieben. Gerade verstarb in Holon, Israel, wieder ein Baby im Anschluss an seine Beschneidung. Dies alles sollten Eltern genau wissen und bedenken, bevor sie ihren Sohn beschneiden oder beschneiden lassen.
      Man kann aus ärztlicher Sicht heute feststellen, dass es keine medizinischen oder „hygienischen“ Gründe für die Entfernung einer gesunden Vorhaut eines gesunden kleinen Jungen gibt. Sämtliche angeführten Gründe lassen sich - wenn vom Betroffenen gewünscht - durch eine Beschneidung im einsichts- und einwilligungsfähigen Alter realisieren.

      Am Thema der Jungenbeschneidung verdichtet sich zudem ein Wertekonflikt zwischen anscheinend nicht verhandelbarer ritueller Praxis und dem laut Grundgesetz sowie der UN-Kinderschutzkonvention unteilbar gültigen Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Die Auseinandersetzung folgt einem epochalen Trend zugunsten einer in Europa zunehmenden Gewaltfreiheit und Sensibilität für Kinderrechte. Unterbrochen von Katastrophen und nach dreihundertjähriger zivilisatorischer Entwicklung der hart erkämpften Rechte für Kinder, Frauen, Minderheiten, ja sogar von Tieren, ist heute in Europa und ja – endlich auch in Deutschland - Gewalt gegen Kinder zunehmend verpönt. Die schutzbereite Haltung des Erwachsenen dem Kind gegenüber stellt historisch gesehen zwar eine junge zivilisatorische Errungenschaft dar. Ihre Sinnhaftigkeit für eine insgesamt gewaltärmere gesamtgesellschaftliche Entwicklung wird jedoch in immer überzeugenderer Weise durch wissenschaftliche Forschungsergebnisse gestützt.

      Ein demokratisch geregelter und wissenschaftlich fundierter Diskurs über kinder- und körperverletzende Bräuche und Rituale ist daher weiterhin nötig. Auch Religionsgemeinschaften sind heute aufgerufen ihre Rituale einer religiös neutralen Öffentlichkeit zu erklären und nicht einfach hierfür Sonderrechte einzufordern. Jedoch wird die Beschneidungsdiskussion und ihre politische Instrumentalisierung weniger von Fakten als von religiösen Dogmen, heftigen Polarisierungen und Vorwürfen bestimmt, die nicht mehr so recht in den Diskurs einer säkularen Wissensgesellschaft passen.

      Religionsfreiheit kann heute kein Freibrief mehr zur Anwendung von Gewalt gegenüber Kindern sein. Und der Schutz der genitalen Sphäre kann nicht nur exklusiv den Mädchen zu Gute kommen. Hinsichtlich der Genitalbeschneidung von Jungen muss die öffentliche Debatte und Wahrnehmung offensichtlich noch weiterentwickelt werden. Es herrscht - verglichen mit der klaren Verurteilung der weiblichen Genitalbeschneidung - eine bemerkenswerte Verleugnungshaltung und Empathieverweigerung gegenüber den kleinen Jungen.

      Natürlich müssen in der laufenden Diskussion auch die Bedürfnisse, Befürchtungen und Traditionen der religiösen Gruppen Berücksichtigung finden. Der schwere Vorwurf jedoch - unter assoziativem Verweis auf die Ermordung der Juden im Nationalsozialismus - durch ein Verbot der rituellen Jungenbeschneidung würde jüdisches Leben in Deutschland unmöglich werden, ist für Vertreter des Kinderschutzgedankens und übrigens auch für prominente jüdische Mitbürger nicht hinnehmbar. Wolffsohn bemerkte in der „Welt“ hierzu: »Nicht von der Vorhaut hängt das Judentum ab. …das jüdische Religionsgesetz, ist eindeutig: Ein unbeschnittener Jude ist Jude, sofern er Sohn einer jüdischen Mutter ist. Zwar erweckten die meisten deutschjüdischen und israelischen Debattenbeiträge den gegenteiligen Eindruck, doch Wortmeldungen ersetzen keine Wissenschaft. Dass einige politisch jüdische und rabbinische Repräsentanten den Bogen zum Holocaust schlugen oder mit Auswanderung drohten, war, bezogen auf die bewährte bundesdeutsche Demokratie, substanz- und taktlos. Dass, wie es heißt, ›ausgerechnet Deutsche‹ sich nicht an dieser Debatte beteiligen sollten, vermag ich als jüdischer Deutscher nicht einzusehen.« Zitatende und Dank an Professor Wolffsohn.

      Es geht um eine zivilisatorische Haltungsfrage. Es geht darum jedes Kind – auch Kinder aus jüdischen oder islamischen Gemeinden - im Rahmen der geltenden Rechtsordnung und der UN-Kinderschutzkonvention vor Verletzungen zu schützen, die sie als schwächere Opfer über sich ergehen lassen müssen, weil sie sich nicht wehren können. Wie wir in Deutschland mit Kindern umgehen, was wir ihnen zumuten und wie konsequent wir sie vor Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung schützen, hat viel mit dem Gewaltpotenzial in unserer Gesellschaft und der Zivilisierung unseres Umganges miteinander zu tun. Hier ist sicher nicht nur die Beschneidung zu kritisieren - sondern auch Wohlstandsverwahrlosung, Desinteresse oder sogar eine Geringschätzung der Entwicklungsbedürfnisse unserer Kinder.

      Aber der Schutz kindlicher Genitalien vor dem verletzenden Zugriff durch unreflektierte Verletzungsrituale gehört auch zu den Entwicklungsaufgaben einer sich zivilisierenden Gesellschaft. Hier haben wir Ärzte mit einer klaren Haltung einen wichtigen Beitrag zu liefern.

      Dies wird von einem wachsenden Teil der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und in Israel übrigens zunehmend ähnlich gesehen. Die Ausübung und Rechtfertigung patriarchalischer oder klerikaler Gewalt über Kinderkörper ist nicht nur innerhalb des Christentums heute schwieriger geworden. Aktuelle Beispiele für die zunehmende Bereitschaft sich in das Erleben des Kindes einzufühlen sind beschneidungskritische Artikel in der Jüdischen Zeitung. Es existiert eine zunehmende Kritik an der Beschneidung nicht nur in Nordamerika sondern auch jüdischen Intellektuelle wie Eran Sadeh, Jonathan Enosch oder Jerome Segal melden sich zu Wort. Enosch spricht von der Beschneidung als einem Akt der Vergewaltigung, Segal nennt sie barbarisch, Sadeh bezeichnet sie als Trauma. Der Begründer der Psychoanalyse, der Wissenschaftler Sigmund Freud setzte seine Söhne nicht dem Trauma der Beschneidung aus. Der Begründer des modernen Staates Israel Theodor Herzl ließ seinen Sohn nicht beschneiden. Hier in der Nähe, in den Hackeschen Höfen hängt eine Gedenktafel für Abraham Geiger, der als Anhänger des Reformjudentums in Deutschland bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Ende der Beschneidung forderte.

      Menschen mit einem starken Glaubensbedürfnis fällt eine psychologische oder historische Sicht auf die Beschneidung oft schwer. Die Beschneidung ist aber keine Erfindung des Judentums oder des Islam. Sie existierte Jahrtausende früher. Als Minderform des Kindesopfers diente sie wahrscheinlich der Besänftigung wichtiger Gottheiten und als Kastrationsandrohung der Herstellung von Gehorsam in patriarchalischen Machtstrukturen. Möglicherweise wurde die Beschneidung weltweit in prähistorischen Jäger- und Stammeskulturen genutzt, um eine Aggressions- und Triebkontrolle innerhalb der Bezugsgruppe zu gewährleisten. Die Beschneidung könnte unter den alltäglich gefährlichen Bedingungen der Frühgeschichte eine sinnvolle Sanktionsandrohung zur Eindämmung sozial unerwünschter Handlungsimpulse gewesen sein. Sie regelte unter archaischen Lebensbedingungen den Umgang mit Sexualität und kanalisierte das männliche Aggressionspotenzial.

      Seine transgenerationale Kontinuität bezieht das Ritual bis heute aus der Identifikation des schwachen Opfers mit dem Aggressor.

      Viele Eltern sind aufgrund des enormen Gruppendrucks, wegen eigener Befangenheit und loyaler Gebundenheit ihren eigenen Eltern gegenüber nicht in der Lage, den offensichtlichen Gewaltaspekt der Beschneidung emotional zu fokussieren. »Es kann und darf nicht schlecht gewesen sein, was meine Eltern mit mir gemacht haben als ich ihr Sohn war. Deshalb tue ich es zu meiner und zur Beruhigung meiner Eltern jetzt auch mit meinem Sohn. Und wenn ich es meinem Sohn auch angetan habe, kann ich nicht mehr zurück und einsehen, dass das auch ein schlimmer Gewaltakt war.«

      Es darf aber bezweifelt werden, ob es heute noch angemessen ist, kleinen Jungen zur Absicherung der gruppalen Identität von Erwachsenen Schmerzen und Ängste zuzufügen und sie erheblichen Gesundheitsrisiken auszusetzen.
      Wir wissen heute, dass auch Neugeborene Schmerzen sehr intensiv fühlen und dass die Erfahrung von Schmerzen und Gewalt die Entwicklung von Kindern schädigen kann. Man tut Kindern nicht weh. Und: Erwachsene haben an den Genitalien von Kindern nichts zu suchen. Man soll Kindern im Namen eines Gottes oder aufgrund fragwürdiger Hygienevorstellungen keine Körperteile abschneiden. Auch nicht Teile ihrer Genitalien. Das macht Angst, setzt fragwürdige Normen und bewirkt eine transgenerationale Einfühlungsstörung. Wir sind deshalb verpflichtet, gerade auch im endlich demokratisch gewandelten Deutschland die Kinderrechte unnachgiebig einzufordern.

      Eine Lösung dieses Konfliktes kann nicht auf der Grundlage von Angst und Zwang oder mittels widersprüchlicher Gesetze erfolgen. Die Frage: „Was tue ich da meinem Sohn eigentlich an?“ wird auch in religiösen Gemeinden lauter werden. Der symbolische Ersatz der Beschneidung wie z.B. im Brit Shalom oder die zeitliche Verschiebung kann in einer säkularen Demokratie mit staatlichem Gewaltmonopol eine kindgerechte Lösung werden. Das vom Deutschen Bundestag in seinen Konsequenzen unzureichend überdachte und überstürzt verabschiedete Gesetz zur Erlaubnis der Jungenbeschneidung wird die Diskussion nicht beenden. Es wird vielleicht sogar Wünschen nach Erlaubnis der religiös begründeten Genitalbeschneidung auch von Mädchen wieder Vorschub leisten.

      Immerhin doch 100 der Abgeordneten des Deutschen Bundestages - man zögert, den Begriff Parlamentarier zu verwenden - konnten sich dem enormen Außendruck entziehen, unter dem die Verabschiedung der nun herbeigeführten gesetzlichen Regelung stand. Die konzertierte Drohkulisse, die historischen Verstrickungen und das mit großen Ängsten besetzte Thema hatte bei vielen Beteiligten fast aller politischen Parteien deutlich wahrnehmbar zu einer Beeinträchtigung der Faktenwahrnehmung, Argumentationsfähigkeit und Autonomie geführt. Dies bewirkte, dass die Mehrzahl der Abgeordneten am 12. Dezember 2012 bei der überstürzt erzwungenen Verabschiedung des Beschneidungsgesetzes mit Tunnelblick an einer unübersehbaren Tatsache vorbei gesehen haben: »Hier und jetzt verletzen wir Kinderrechte«.

      Das Gesetz erlaubt nun die Beschneidung von Jungen unter bestimmten – oder besser – unter sehr unbestimmten Bedingungen. So wurde die medizinische Fachkunde des Durchführenden relativiert, die Frage der Schmerzbetäubung blieb unklar und Jungen können auf Wunsch der Eltern auch aus anderen Gründen als religiösen sowie gegen ihren offensichtlichen Willen beschnitten werden. Der Verfassungsrechtler Merkel hat darauf aufmerksam gemacht, dass es Eltern, die beispielsweise die Selbstbefriedigung ihres Jungen unterbinden möchten, zwar verboten wäre ihren Jungen deswegen zu schlagen. Die unpräzisen Formulierungen des Gesetzes hinsichtlich der Beschneidungsmotive würden es ihnen aber erlauben den Jungen beschneiden zu lassen. Straf- und Verfassungsrechtler sehen deshalb durch die jetzige Regelung wesentliche Grundrechte wie das auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung, Religionsfreiheit und den Gleichheitsgrundsatz verletzt.

      Viele Juristen, Ärzte, Wissenschaftler, Politiker und Betroffene sind mit dieser Situation unzufrieden und äußern schwerwiegende Bedenken. Dies kann orthodoxen Religionsvertretern, die in der Verletzung kindlicher Genitalien den Kern ihrer religiösen Identität sehen, nicht gefallen. Trotzdem werbe auch ich zusammen mit vielen anderen dafür, sich in dieser Angelegenheit eindeutig und ohne jeden Vorbehalt auf die Seite des Kindes zu stellen. Die Zeit wird in Europa langsam reif dafür. Die Debatte wird auch innerhalb der Religionsgemeinschaften zunehmend auf wissenschaftlicher Grundlage geführt werden und Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, der Hirn- und Präventionsforschung stärker berücksichtigen als bisher. Die religiös oder pseudomedizinisch begründete Verletzung und die genitale Diskriminierung von Jungen muss daher benannt und samt der momentanen Rechtspraxis in Frage gestellt werden.
      • Die Vorhaut kann mit einer Rosenknospe verglichen werden. Wie eine Rosenknospe wird sie erst blühen, wenn die Zeit gekommen ist. Niemand öffnet eine Rosenknospe, um sie zum Blühen zu bringen (Dr. med. H. L. Tan).
      • Alle Wahrheit verläuft in drei Stadien: Im ersten wird sie verlacht. Im zweiten wird sie vehement bekämpft. Im dritten wird sie als selbstverständlich anerkannt (Arthur Schopenhauer).
      • Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt (Thomas Mann)
    • Kinderlachen schrieb:

      Ein sehr interessanter Beitrag, und das von einem Arzt und Psychoanalytiker!
      Ja, das ist so ziemlich das Vollständigste und Brillanteste, was ich je vernommen habe.
      Aus seinem Munde vorgetragen kommt das nochmals besser: kurzweilig und ergreifend. Das war eine Sternstunde.
      • Die Vorhaut kann mit einer Rosenknospe verglichen werden. Wie eine Rosenknospe wird sie erst blühen, wenn die Zeit gekommen ist. Niemand öffnet eine Rosenknospe, um sie zum Blühen zu bringen (Dr. med. H. L. Tan).
      • Alle Wahrheit verläuft in drei Stadien: Im ersten wird sie verlacht. Im zweiten wird sie vehement bekämpft. Im dritten wird sie als selbstverständlich anerkannt (Arthur Schopenhauer).
      • Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt (Thomas Mann)
    • neues von Matthias Franz

      • Die Vorhaut kann mit einer Rosenknospe verglichen werden. Wie eine Rosenknospe wird sie erst blühen, wenn die Zeit gekommen ist. Niemand öffnet eine Rosenknospe, um sie zum Blühen zu bringen (Dr. med. H. L. Tan).
      • Alle Wahrheit verläuft in drei Stadien: Im ersten wird sie verlacht. Im zweiten wird sie vehement bekämpft. Im dritten wird sie als selbstverständlich anerkannt (Arthur Schopenhauer).
      • Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt (Thomas Mann)