Psychisch kranke Erwachsene sind in Deutschland besser geschützt als gesunde Jungen.

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    • Psychisch kranke Erwachsene sind in Deutschland besser geschützt als gesunde Jungen.

      Gerade eben wurde vom Bundesverfassungsgericht ein lesenswertes Urteil zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug veröffentlicht. Im Wesentlichen geht es darum, dass der Betreuer einer psychisch kranken, einsichtsunfähigen Person nicht in eine ärztliche Zwangsmaßnahme einwilligen darf. Die Frage, ob darunter auch eine Zwangsbeschneidung fallen würde, dürfte sich wohl erübrigen.

      Das Bundesverfassungsgericht

      Nun ist schon klar, dass zwischen Betreuung und Elternschaft naturgemäß rechtliche Unterschiede bestehen. Allerdings haben Eltern keinerlei Rechte mehr, sobald eine Person unter Betreuung gestellt wird.

      Das Urteil wirft jedoch eine grundsätzliche Frage auf: wie kann es sein, dass erwachsene einsichtsunfähige Personen in ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit besser gestellt sein sollen, als minderjährige einsichtsunfähige Personen?

      Ein Abschnitt in der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts ist schon wirklich bemerkenswert, da er das Beschneidungsgesetz ebenso gut treffen würde:

      "Es fehlt zudem an der Bestimmung des Zwecks oder der Zwecke, die den Eingriff rechtfertigen sollen. Auch sonst ist dem Erfordernis, die materiellen Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung über die Anforderung der Zumutbarkeit und Verhältnismäßigkeit hinaus gesetzlich zu konkretisieren, nicht Genüge getan."
    • Eine sehr interessante Argumentationskette des Gerichts. Danke für den Hinweis.

      Das Gericht kritisiert ja, dass in dem Gesetz keine Bestimmung angeführt wird, die die Durchsetzung des Betreuerwillens konkretisiert. Die blosse Berufung auf den Betreuerwillen reiche allein nicht aus.

      Diese Bestimmung ist im Beschneidungsgesetz allerdings konkretisiert: durch das Kindeswohl. Der Wille der Eltern muss sich in dessen Rahmen bewegen. Aus Sicht der Beschneidungskritik ist das natürlich völlig absurd, weil ein Eingriff in die körperliche Unversehrheit, die nicht medizinisch legitimiert ist, per se nicht dem Kindeswohl entsprechen KANN, auch wenn die Eltern noch so sehr von seiner Wohltätigkeit überzeugt sind.

      Analog dazu hätte der Gesetzgeber im selben Paragraphen auch formulieren könnten: körperliche Züchtigung unterliegt dem Willen der Eltern, solange sie sich im Rahmen des Kindeswohls bewegt und z.B. aus religiösen Gründen erfolgt. In diesem Fall wollte aber der Gesetzgeber genau das nicht. Er wollte körperliche Züchtigung per se ächten, ganz unabhängig von dem, was die Eltern sich dabei denken.
      "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" K.M.
    • werner schrieb:

      Diese Bestimmung ist im Beschneidungsgesetz allerdings konkretisiert: durch das Kindeswohl.
      Das Gefährdung des Kindeswohls soll meiner Auffassung nach eher der Eingrenzung eines nicht medizinischen Zwecks dienen, von dem zwar die Rede ist, der aber überhaupt nicht im Gesetzestext benannt, geschweigedenn konkretisiert wird:

      "Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird." (§1631d, Abs. 1, Satz 2 BGB)

      Es ist also von einem Zweck die Rede, der nicht benannt wird, Hauptsache es gibt ihn. Es muss somit vor der Beschneidung keine Einigung zwischen Elternteil und Beschneider bzw. Arzt bezüglich des Zwecks vorliegen. Der Bestimmtheitsgrundsatz wird noch viel mehr als bei dem § 22 SächsPsychKG verletzt.

      Mal als Vergleich zum § 1631d BGB der mittlerweile verfassungswidrige und nichtige § 22 SächsPsychKG, bei dem es immerhin um "nach den anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst erforderlichen Behandlungsmaßnahmen" ging:

      § 22 Behandlung ohne Einwilligung des Patienten
      (1) Zu allen nach den anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst erforderlichen Behandlungsmaßnahmen ist grundsätzlich das Einverständnis des Patienten oder seines gesetzlichen Vertreters einzuholen. Liegt eine Zustimmung nach § 16, eine Einwilligung eines Betreuers mit dem Aufgabenkreis der Gesundheitssorge oder bei Minderjährigen des Sorgeberechtigten nicht vor, so dürfen die Behandlung und die dafür notwendigen Untersuchungen ohne Einwilligung des Patienten nur durchgeführt werden, wenn durch den Aufschub das Leben oder die Gesundheit des Patienten erheblich gefährdet wird.

      (2) Ärztliche Eingriffe und Behandlungsverfahren im Sinne des Absatzes 1, die mit einem operativen Eingriff oder einer erheblichen Gefahr für Leben oder Gesundheit verbunden sind, sind nur nach rechtswirksamer Einwilligung des Patienten oder, falls er die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und der Einwilligung nicht beurteilen kann, des gesetzlichen Vertreters erlaubt.

      (3) Eine Ernährung gegen den Willen des Patienten ist nur zulässig, wenn sie erforderlich ist, um eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für das Leben oder die Gesundheit des Patienten abzuwenden.

      (4) Sämtliche Maßnahmen dürfen die Würde des Patienten nicht verletzen und nur auf Anordnung und unter unmittelbarer Leitung und Verantwortung eines Arztes durchgeführt werden.
    • Pöser Pürger schrieb:

      Es ist also von einem Zweck die Rede, der nicht benannt wird, Hauptsache es gibt ihn. Es muss somit vor der Beschneidung keine Einigung zwischen Elternteil und Beschneider bzw. Arzt bezüglich des Zwecks vorliegen. Der Bestimmtheitsgrundsatz wird noch viel mehr als bei dem § 22 SächsPsychKG verletzt.
      Hm, ist es aber diesem Fall nicht so, dass die Bestimmung des Zwecks der Freiheit der elterlichen Erziehungsgewalt unterliegt, in die sich der Gesetzgeber gar nicht einmischen darf? D.h. Eltern dürfen mit ihren Kindern anstellen, was sie wollen, es sei denn, das Kindeswohl wird verletzt.
      "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" K.M.
    • werner schrieb:

      Hm, ist es aber diesem Fall nicht so, dass die Bestimmung des Zwecks der Freiheit der elterlichen Erziehungsgewalt unterliegt, in die sich der Gesetzgeber gar nicht einmischen darf? D.h. Eltern dürfen mit ihren Kindern anstellen, was sie wollen, es sei denn, das Kindeswohl wird verletzt.

      Der Bestimmtheitsgrundsatz sieht vor, dass das was im Gesetz steht zunächst klar und eindeutig sein muss. Im Falle des § 1631d BGB ist in Bezug auf den Zweck der Beschneidung das Gegenteil der Fall. Der Gesetzgeber schließt eine Gefährdung des Kindeswohls nicht aus, stellt dies aber in Abhängigkeit von der Berücksichtigung eines Zwecks. Das bedeutet, es gibt laut Gesetzgeber den nicht medizinischen Zweck, der mit der Gefährdung des Kindeswohl abzuwägen wäre. Ein Zweck, der die Gefährdung des Kindeswohls jedoch überwiegt, kann ja nun nicht aus der Luft gegriffen sein. Folglich müsste er im Gesetz auch definiert werden. Da wäre dann wohl oder übel nur das religiöse Ritual in Frage gekommen.

      Damit das Gesetz vor dem BVG nicht zu schnell angegriffen werden kann, wollte man jedoch kein religiöses Ritual als Zweck benennen. Wäre dies nämlich geschehen, hätten bereits Beschneidungsgegner aus den Religionsgesellschaften heraus Verfassungsbeschwerde erheben können. Sie könnten die Diskriminierung ihrer Söhne gem. Art. 3 GG rügen. Aufgrund von Religionszugehörigkeit würde deren Grundrecht auf körperliche Unversehrheit gem. Art. 2 (2) GG im Vergleich zu nicht oder anders religiösen Jungen eingeschränkt werden. Und weg wäre das Gesetz. Ein nicht religionsgebundenes wie das jetzt vorhandene könnte dann auch nicht mehr nachgeschoben werden.

      Tja - da waren schon perfide Juristen am Werk.
    • Pöser Pürger schrieb:

      Der Bestimmtheitsgrundsatz sieht vor, dass das was im Gesetz steht zunächst klar und eindeutig sein muss. Im Falle des § 1631d BGB ist in Bezug auf den Zweck der Beschneidung das Gegenteil der Fall. Der Gesetzgeber schließt eine Gefährdung des Kindeswohls nicht aus, stellt dies aber in Abhängigkeit von der Berücksichtigung eines Zwecks. Das bedeutet, es gibt laut Gesetzgeber den nicht medizinischen Zweck, der mit der Gefährdung des Kindeswohl abzuwägen wäre. Ein Zweck, der die Gefährdung des Kindeswohls jedoch überwiegt, kann ja nun nicht aus der Luft gegriffen sein. Folglich müsste er im Gesetz auch definiert werden. Da wäre dann wohl oder übel nur das religiöse Ritual in Frage gekommen.
      Besten Dank für Deine (für mich) hilfreichen Klarstellungen.

      Eine Idee hätte ich noch. :whistling:

      Geht es wirklich um den Zweck der Beschneidung oder um den Zweck des Gesetzes? Letzterer ist doch klar: Erlaubnis der Beschneidung bei Jungen. Daran ist doch nichts Unbestimmtes, oder? Jeder weiss doch jetzt, auf welche konkrete Handlung Bezug genommen wird. Auch die Art der Durchführung wird bestimmt (Regeln der ärztlichen Kunst). Alles dies blieb doch im SächsPsychKG unbestimmt.
      Die Formulierung "auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks" bezieht sich vielleicht gar nicht auf das Bestimmtheitsgebot im GG, sondern eher auf die Frage des Kindeswohls, um "unlautere" Motive auszuschliessen (Masturbationsdrohung).
      "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" K.M.
    • werner schrieb:

      Geht es wirklich um den Zweck der Beschneidung oder um den Zweck des Gesetzes? Letzterer ist doch klar: Erlaubnis der Beschneidung bei Jungen. Daran ist doch nichts Unbestimmtes, oder? Jeder weiss doch jetzt, auf welche konkrete Handlung Bezug genommen wird. Auch die Art der Durchführung wird bestimmt (Regeln der ärztlichen Kunst). Alles dies blieb doch im SächsPsychKG unbestimmt.
      Die Formulierung "auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks" bezieht sich vielleicht gar nicht auf das Bestimmtheitsgebot im GG, sondern eher auf die Frage des Kindeswohls, um "unlautere" Motive auszuschliessen (Masturbationsdrohung).

      Der Zweck steht im Kontext mit der Beschneidung, etwas anderes kann ich nicht erkennen.

      "...Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird...." (§ 1631d BGB)

      Das Kindeswohl kann also (im Sinne des Gesetzgebers) unter Berücksichtigung des Zwecks der Beschneidung mehr oder weniger stark gefährdet werden. Das würde zunächst nur Sinn machen, wenn der Zweck medizinischer Art wäre. Diesen schließt das Gesetz jedoch explizit aus. Somit müssten nicht medizinische Zwecke, die mit dem Kindeswohl in Konkurrenz gestellt werden können, vom Gesetzgeber eindeutig benannt werden. Tut er aber nicht, sondern überlässt das den Gerichten, deren Arbeit er im Falle des LG Köln eben noch mit Füßen getreten hat. Vor Gericht würden dann allerdings die Richter das Kindeswohl definieren und weder Eltern noch Sabine Leutheusser-Schnarrenberger noch Herr Graumann.

      Beim SächsPsychKG ist die Unbestimmtheit des Gesetzes zwar anders gelagert, aber der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit m.E. dafür nicht so gravierend wie beim Beschneidungsgesetz, da es ja eindeutig um medizinische Maßnahmen geht. Deshalb betrachte ich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als brauchbaren Maßstab für den § 1631d BGB.
    • Pöser Pürger schrieb:

      Zumutbarkeit und Verhältnismäßigkeit
      Genau in die Richtung wurde ja schon vorausschauend vorgebaut.

      <SARKASMUS>Wir wissen ja inzwischen, dass Beschneidung nicht schlimmer ist als Nägelkürzen und dass sie sogar Vorteile hat, gesundheitliche und soziale. </SARKASMUS>
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