Verschiebung der Beschneidung auf ein späteres Alter (ein Antrag von 1826 !)

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    • Verschiebung der Beschneidung auf ein späteres Alter (ein Antrag von 1826 !)

      Ein kleiner Fund aus der Geschichte:
      Am 5. Dezember 1826 brachte ein Herr André aus Offenbach a. M. drei Anträge zur „Civilisation der Juden“ in die zweite Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen-Darmstadt ein. Die Anträge betrafen 1. die Verlegung des Sabbats auf den Sonntag, 2. die Verschiebung der Beschneidung auf ein späteres Alter und 3. die Ermöglichung von Ehen zwischen Christen und Juden, ohne dass der jüdische Teil seine Religion wechseln müsse. Seine Ausführungen zur Beschneidung zitiere ich hier im Wortlaut. Die Argumente von 1826 gelten kurz und prägnant auch noch im Jahr 2013.
      "Als zweiten Punkt bringt Hr André die Verschiebung der Beschneidung auf ein späteres Alter in Vorschlag. Vor andern Ceremonien, wodurch der Mensch in die religiöse Gesellschaft eingeführt werde, zeichne sich die Beschneidung dadurch aus, dass sie eine nach Umständen lebensgefährliche [!!] Operation erfordere, dass sie ein bleibendes Merkmal hinterlasse und dem Körper einen unersetzlichen Verlust zufüge. Wenn man auch eine Stellvertretung durch den Willen der Eltern in vielen Dingen zulässig finde; bis zur Verstümmelung dürfe sie nicht gehen. Und doch nehme man die Beschneidung in dem Alter der Willens- und Wehrlosigkeit vor. Hierdurch sey die Befugnis des Staates begründet, den Missbrauch der elterlichen Gewalt zu hindern und sein Recht – wie seine Pflicht – des Schutzes der Personen, dieser ersten Bedingung des Staatsvereins, geltend zu machen. Den Juden bleibe es unbenommen, sich, wenn sie in das Alter des Selbstwillens einträten, beschneiden zu lassen. (Anm.: Hat doch Abraham erst im 99jährigen Alter sich beschneiden lassen!) Mittlerweile könne den Knaben so gut, wie den Mädchen, und so feierlich wie man wolle, ein Name gegeben werden. Eine medicinische Abwägung der Gründe für und gegen habe längst die Unzulässigkeit der Beschneidung, die überdies in dem größeren Theile der heißen Zonen nicht eingeführet sey, dargethan. (Anm.: Unter andern hat der berühmte Arzt, Fhr. von Wedekind, diesen Beweis in ärztlicher Hinsicht geführt.)"
      Hervorhebungen und Anmerkungen im Original
      aus: Sophronizon. Eine unpartheisch-freimüthige Zeitschrift, das Besserwerden in Kirche, Staat und Wissenschaftlichkeit bezweckend. Herausgegeben von Dr. Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, Professor der Theologie und Philosophie zu Heidelberg, 10. Jg. 1828, 2. Heft, S. 107. Digitalisiert von Google-Books:
      Sophronizon oder unpartheyisch-freymüthige Beyträge zur neueren Geschichte ... - Sophronizon - Google Books

      Die rationalistisch eingestellte theologische Zeitschrift Sophronizon schrieb 1828 zu diesen Anträgen:
      "Unleugbar hat Hr André die praktischen Mittel vorgeschlagen, ohne welche alles Übrige, was man für die Juden – in unserem, wie ihrem interesse – sprechen und schreiben thun mag, gelähmt bleiben wird. Die Stände des Großherzogtums werden, indem sie seinen Antrag zu dem ihrigen machen, das repräsentative Princip ehren, und die Großherzogliche Staatsregierung wird, indem sie den Antrag durch einen geeigneten Gesetzesentwurf erwiedert, sich bleibenden Anspruch auf den Dank der Mit- und Nachwelt erwerben. Ein solcher Fortschritt in der Civilisation kann nicht ohne Nachahmung bleiben, und der so zeitgemäße Antrag des Abgeordneten Hrn André wird, wenn auch nicht die Reise um die Welt, doch die durch Europa machen." (a.a.O., S. 108f)
      Und so ging die Sache damals aus:
      "Unter dem 25. April 1827 erfolgte mit Bedauern Nachricht über den mißlungenen Versuch, den fraglichen Gegenstand bei der Gesetzgebung mit Erfolg zur Sprache zu bringen. Der Ausschußbericht war für die Andréische Motion; die Discussionen ließen eine günstige Prognose stellen – dennoch fiel die Motion mit der Majorität einiger Stimmen bei der zweiten Kammer durch." (a.a.O., S. 109)
    • Manchmal drehen sich Debatten - geschichtlich gesehen - im Kreis. Die Menschheit war schon vor bald zweihundert Jahren so schlau wie wir heute. Wieder ein Beweis, dass der Fortschritt eine Schnecke ist.
      Aufrichtig zu sein kann ich versprechen, unparteiisch zu sein aber nicht. (JWvG)
      Auch für die Religionsfreiheit gilt: "Freiheit ist immer nur die Freiheit des anders Denkenden." (R.Luxemburg)
    • Sehr interessant, danke Benni. Weisst Du den Grund, warum die Sache nicht durchkam?

      Ich vermute, der Grund der Ablehnung war die Befürchtung vieler Abgeordneter, dass rationalistische Reformbestrebungen auch auf die Christliche Religion übergreifen könnten.
      Art. 2 GG:
      (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Geschuldet der deutschen Vergangenheitsbewältigung gilt dieses Grundrecht ausdrücklich nicht, wenn die Person a) ein Kind und b) männlich ist, c) die Eltern entweder jüdischen oder muslimischen Glaubens sind und d) das kindliche Genital das Ziel der Versehrtheit ist.
    • R(h)einwein schrieb:

      dass der Fortschritt eine Schnecke ist


      und obendrein eine lahme...
      • Die Vorhaut kann mit einer Rosenknospe verglichen werden. Wie eine Rosenknospe wird sie erst blühen, wenn die Zeit gekommen ist. Niemand öffnet eine Rosenknospe, um sie zum Blühen zu bringen (Dr. med. H. L. Tan).
      • Alle Wahrheit verläuft in drei Stadien: Im ersten wird sie verlacht. Im zweiten wird sie vehement bekämpft. Im dritten wird sie als selbstverständlich anerkannt (Arthur Schopenhauer).
      • Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt (Thomas Mann)
    • Josc schrieb:
      Sehr interessant, danke Benni. Weisst Du den Grund, warum die Sache nicht durchkam?
      Ich vermute, der Grund der Ablehnung war die Befürchtung vieler Abgeordneter, dass rationalistische Reformbestrebungen auch auf die Christliche Religion übergreifen könnten.
      Sehr gute Frage, Josc. Danke. Ich habe morgen früh einen Termin im Staatsarchiv Darmstadt, um die Protokolle zu lesen und deiner Frage nachzugehen. Was ich jetzt schon einmal weiß: der kluge hessische Abgeordnete hieß Johann Anton André (6.10.1775 Offenbach - 6.4.1842 Offenbach). Er war evangelisch und stammte aus einer Hugenotten-Familie. Komponist, Hofkapellmeister und Musikverleger. André veröffentlichte 79 Erstausgaben Mozartscher Kompositionen, nachdem er von Mozarts Witwe Constanze den gesamten handschriftlichen Nachlass des Komponisten erhalten hatte. André gehörte einer Freimaurer-Loge an und war Abgeordneter der 2. Kammer in der Wahlperiode 1826-1830.
      de.wikipedia.org/wiki/Johann_Anton_Andre
    • Vielleicht für Benni interessant: Besprechung des Buches von Moritz Gustav Salomon über die Beschneidung von 1844.

      link.springer.com/static-conte…s00120-012-3031-2/000.png

      Ich weise insbesondere auf die Feststellungen des Reszensenten über die Todesfälle nach Beschneidungen im 19. Jahrhundert hin.
      "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" K.M.
    • Josc schrieb:

      Sehr interessant, danke Benni. Weisst Du den Grund, warum die Sache nicht durchkam?

      Ich vermute, der Grund der Ablehnung war die Befürchtung vieler Abgeordneter, dass rationalistische Reformbestrebungen auch auf die Christliche Religion übergreifen könnten.
      Es könnte auch sein, dass ähnliche Gründe wie im folgenden Artikel beschrieben ausschlaggebend waren.

      Juden in Brandenburg-Preuen
      "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" K.M.